Als der Tag begann
nichts davon übrig.
In diesem letzten Semester musste ich den Stoff eines ganzen Schuljahres durchbringen und zu einigen Bewerbungsgesprächen an verschiedene Colleges fahren. Auf gar keinen Fall konnte ich arbeiten. Wochenlang verbrachte ich durchschnittlich zehn Stunden in der Schule, um dann nach meiner Rückkehr zu Hause über meinen Bewerbungen zu sitzen, deren Unterlagen ich auf dem Tisch ausbreitete. Unsere Lebensmittel bezogen wir aus den Vorräten der Jugendorganisation. Es fühlte sich grauenhaft an, dass das ganze Geld von meinem Sommerjob bereits weg war und ich gleichzeitig keine Zeit für eine neue Beschäftigung hatte, da ich so viele Kurse belegen musste und gezwungen war, diese Stipendiumsbewerbungen zu schreiben.
Das Ganze war höchst riskant, und es fühlte sich falsch an. Allein auf mich gestellt, hätte ich umsichtig handeln und so wenig Geld wie möglich ausgeben können, um meine Ersparnisse zum Überleben einzusetzen. Dieses Geld war meine Schmusedecke gewesen, meine Sicherheit. Aber nachdem ich alles in eine Wohnung investiert hatte, war ich so pleite wie an dem Tag, an dem ich das Holiday Motel verlassen hatte. Jeden Tag ging ich aus dem Haus, und Lisa vertiefte sich – ohne Glück – in den Stellenmarkt. Dann lagen die Kündigungen in der Post, Rechnungen in weißen Umschlägen mit dicken roten Streifen in der Mitte und imposanten Stempeln, die den Stichtag für das Ende der Bereitstellung von Telefon und Strom verkündeten. Und der Druck stieg.
Staatliche Unterstützung schien die einzig vernünftige Lösung zu sein. Sie mussten uns helfen. Sozialhilfe war ja für Lisa und mich nichts Neues. Wir hatten Ma zu vielen ihrer Termine begleitet, also wusste ich, was uns dort erwartete. Trotzdem bereitete mich nichts darauf vor, wie diese mürrische, ungehobelte Frau, die für unsere Akte zuständig war, uns behandelte. Sie hatte uns immer wieder weggeschickt, weil wir angeblich dieses oder jenes Dokument nicht vorweisen konnten, nicht den Beweis dafür hatten,
dass Ma gestorben war oder dass Daddy nicht für uns sorgte. Wie sollten wir etwas beweisen, das nicht stattfand? Und was, wenn wir keine Kopie von Mas Sterbeurkunde finden würden? Aber dann, am Tag meines Bewerbungsgesprächs für das Stipendium, war ich mir so sicher, dass wir alles richtig gemacht hatten; bestimmt mussten wir an jenem Morgen nur noch pro forma in dieses Büro gehen, und unser Fall konnte abgeschlossen werden; dann würden wir die Miete ausbezahlt bekommen und ein paar Essensmarken abholen.
»Sie sind nicht berechtigt, Leistungen aus öffentlichen Geldern zu bekommen«, sagte die Sozialarbeiterin nüchtern, schloss unsere Akte und warf sie auf ihren Schreibtisch.
»Wie meinen Sie das?«, fragte ich nach, als klar wurde, dass sie nicht vorhatte, noch ein Wort darüber zu verlieren.
Sie holte einmal tief Luft, mit einem Geräusch, als saugte sie Luft zwischen den Zähnen hindurch, und verdrehte anschließend die Augen. »Ich meine es genauso, wie ich es sage, Prinzessin. Sie sind nicht berechtigt.«
Prinzessin? So wie sie mich behandelte, brachte sie mich zurück ins Erziehungsheim und zurück in die Motels mit Carlos. Eine Wahrheit offenbarte sich mir: In meinem Leben entschieden Leute über mein Leben, wenn ich bedürftig war, nicht mehr und nicht weniger. Und je bedürftiger ich blieb, desto öfter trafen andere Leute die Entscheidung, was mit mir zu passieren hatte. Ich beschloss, mein Leben mit unermesslich vielen Dingen zu füllen, die mir Macht verliehen, und dann würden Leute wie diese Frau klein werden, so klein, bis sie aus meinem Blickfeld verschwunden waren.
»Ich habe Sie genau verstanden, Ma’am. Ich möchte nur von Ihnen wissen, warum ich nicht berechtigt bin.«
Sie trug ihr Erwiderung wortreich vor, mit noch mehr Augenrollen, aber es war keine vernünftige Antwort. Wie so viele andere Leute, denen ich an diesem Morgen zusah, wie man ihnen »half«, ließ ich mich dazu hinreißen, die abgestumpfte Sozialarbeiterin
anzubrüllen, ein weiterer Ziegelstein in dieser Wand, die zwischen mir und den Dingen stand, die ich begehrte und brauchte.
Ich spürte, wie ich immer wütender wurde. Genau in diesem Moment verkörperte sie alle Menschen, die jemals »Nein« zu mir gesagt hatten, die Sozialarbeiter, die mich enttäuscht hatten, die Lehrer an den ersten Alternativhighschools, die mich abgelehnt hatten. Ich hatte eine Stinkwut. Schließlich hob ich meine Hand in einer Geste, die »Stopp« sagte, und
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