Als der Tag begann
hielt sie ihr näher vors Gesicht, als es noch in Ordnung war.
»Wissen Sie was?«, sagte ich. »Ich komme zu spät zu meinem Bewerbungsgespräch für Harvard, wenn ich weiterhin meine Zeit hier mit Ihnen verschwende.« Ich wollte sie spüren lassen, dass ich, auch wenn sie meinte, in diesem Moment über mich bestimmen zu können, etwas Wichtigeres vorhatte, etwas, das wichtiger war als ihre Person.
Sie lachte mir ins Gesicht. »Tatsächlich? Na ja, gleich kommt hier Frau Doktor von der Yale University hereinspaziert. Sie können also meinetwegen gern zu Ihrem Termin mit Haaar-vaaard gehen.«
Blut stieg mir in den Kopf, und ich stürmte aus ihrem Büro. Ist schon gut, dachte ich, als ich die Glastüre aufstieß und dieses erbärmliche Bürogebäude verließ. Ich hatte sehr wohl an diesem Nachmittag ein Gespräch mit einem Harvard-Alumnus, wenn mir die Sozialarbeiterin auch nicht glaubte. Mein Terminplan war voll: zuerst der Termin auf dem Sozialamt, den ich als reine Routine eingeschätzt hatte, dann das Bewerbungsgespräch mit dem Harvard-Alumnus in Midtown und anschließend mein Gespräch bei der New York Times. Da ich versuchte, so wenige Unterrichtsstunden wie möglich zu verpassen, hatte ich diese Termine auf ein und denselben Tag gelegt, und ich hatte gehofft, er würde gut verlaufen. Wie sich herausstellte, lief nur die Sache auf dem Sozialamt nicht zufriedenstellend …
Ich traf den Harvard-Alumnus in seinem Büro, eine Anwaltskanzlei an der East Side. Selbst jetzt im Nachhinein erscheint mir
dieses Gespräch wie ein diffuses Gespinst aus höflichen Standardfragen zu Themen wie Schule, Zukunft, Ausbildung und Karrierezielen. Ich erinnere mich noch daran, wie ich mit dem Fahrstuhl hinunterfuhr und mein Tagebuch aufschlug, um noch einmal die nächste Adresse zu überprüfen, 229 West, 43rd Street, und dass ich das Gefühl hatte, alles sei gut verlaufen.
Nachdem ich aus dem Regen in das Verlagsgebäude getreten war, durchlief ich die Sicherheitsvorkehrungen und wurde in einen winzigen Raum geleitet, in dem sich die Endrundenteilnehmer versammelt hatten. Ich suchte mir einen Platz und sah mich erst einmal genau um. Zwei sehr nervös wirkende Schüler saßen mit ihren Eltern auf einem Sofa. Ein Finalist ging ständig in dem stickigen Raum auf und ab; eine Mutter rieb zur Entspannung die Schulter ihrer Tochter. Auf einem kleinen Tisch lagen Ausgaben der New York Times .
Über die Bedeutung, ein Stipendium zu gewinnen, war ich mir durchaus im Klaren, aber nicht, was es hieß, genau dieses Stipendium zu gewinnen, jedenfalls nicht richtig. Ich wusste, dass ich nicht auf ein Topcollege gehen konnte, ohne wenigstens ein Teilstipendium zu ergattern. Erstklassige Unis boten aber die besten Zukunftsaussichten, und genau darauf war ich ja aus. Die Studiengebühren in Harvard waren unglaublich hoch, und ich konnte mir im Moment noch nicht einmal ein Truthahnsandwich leisten, also leuchtete es mir ein, dass ich fürs College auf Unterstützung angewiesen war. Aber was ich nicht peilte, war der Stellenwert, der mit dem Gewinn eines Stipendiums von der Times verbunden war. Noch nie, nicht ein einziges Mal, hatte jemand in meinem persönlichen Umfeld die New York Times gelesen. Mir fehlte ganz einfach das Bezugssystem, um den Einfluss dieser Zeitung ermessen zu können. Wer in meinem Viertel überhaupt Zeitung las, der griff nach der New York Post oder den New York Daily News . Die Leute, die ich, meistens in der U-Bahn, mit der dickeren, großformatigeren New York Times in der Hand gesehen hatte, waren berufstätig und korrekt gekleidet. Ich selbst hatte sie vorher natürlich
auch nie gelesen. Daher konnte ich die allgemeine Nervosität und die Tatsache, dass einer der Typen kurz davor war zu hyperventilieren, überhaupt nicht verstehen. Meine Unwissenheit schützte mich glücklicherweise davor, die wahre Bedeutung des Ganzen zu begreifen. Mittlerweile war ich durch meine Erfahrungen an der Prep und dem Wissen darum, wie viel leichter es mir fiel, mit Leuten zu reden, auch nicht mehr sehr nervös. Genau genommen fühlte es sich nach diesem langen Tag richtig gut an, irgendwo im Warmen und Trockenen zu sitzen, und ich entspannte mich beim Warten immer mehr.
Während ich in diesem kleinen, fensterlosen Raum auf meinen Termin wartete, den dritten am heutigen Tag, fielen mir die auf dem Tisch bereitstehenden Erfrischungen ins Auge. Wasserflaschen waren in perfekten Reihen aufgestellt, neben einem Tablett mit Croissants,
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