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Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Murray
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war. Ich schwebte über mir und blickte auf mich hinunter. Ich beobachtete, wie meine Hand fieberhaft über die Seite glitt, und ich beobachtete, wie alles, was mich in meinem Leben aufgehalten hatte, von mir abfiel.
    Als mein getippter Aufsatz an diesem Abend aus dem Drucker kam, heftete ich ihn an mein Zeugnis. Jetzt musste ich mich nur noch am College bewerben.
    Eigentlich war es als Gruppenfoto für unser Jahrbuch gedacht, mehr nicht. Ich hatte ja keine Ahnung, dass ich mich deshalb an der Harvard University bewerben würde. Die zehn besten Schüler aus allen Jahrgängen, die an dem Kurs über Stadterkundungen teilgenommen hatten – zur Erforschung von städtischen Einrichtungen wie zum Beispiel einer Parkanlage, der New Yorker Kanalisation oder dem U-Bahn-Tunnelsystem –, wurden für eine gemeinsame Freizeit nach Boston eingeladen. Perry wollte uns für unseren Arbeitseinsatz mit einem Wochenendausflug belohnen. Zusammen mit einer anderen Lehrerin, Christina, stieg der ganze Trupp in einen Amtrak-Zug; unterkommen würden wir im Studentenwohnheim am Boston College. Eva und ich hatten uns beide für den Ausflug qualifiziert, und nun saßen wir in diesem riesigen Pendlerzug nebeneinander und unterhielten uns ohne Pause
während der gesamten vierstündigen Fahrt. Ständig unterbrach ich Eva mit einem lebhaften »Sieh mal!« und zeigte dann aus dem Fenster auf die Landschaft, die an uns vorbeizog, auf lange Häuserreihen, glitzernde Gewässer, den weiten Himmel. Sie war mit ihrem Vater und ihrer Großmutter schon mal in Paris gewesen, also war eine Zugfahrt für sie nichts Besonderes. Aber sie war nachsichtig mit mir und drehte sich jedes Mal zum Fenster, um nach den alltäglichen Dingen Ausschau zu halten, die mir eine solche Freude bereiteten.
    Meine erste Reise in einem Pendlerzug fühlte sich wie ein Abenteuer an. Ich war vor Aufregung völlig aus dem Häuschen und wurde redselig. Weil wir ein bisschen ungestört sein wollten, waren wir in den Speisewagen umgezogen, und wieder unterbrach ich Eva, diesmal mitten in einer Geschichte über ihren Freund Adrian. Ich wechselte von dem Platz, der Eva gegenüberlag, auf den Sitz direkt neben ihr.
    »Ich habe keine feste Bleibe«, beichtete ich aus heiterem Himmel. »Aber sag es niemandem weiter, okay?« Wir hatten uns eigentlich nur ein paar Salzbretzelchen im Speisewagen geteilt und über James und Adrian gequatscht, und ich befürchtete sogleich, meine unerwartete Ankündigung könnte unser Gespräch belasten.
    »Nein, das werde ich nicht«, antwortete sie, und sie wirkte überhaupt nicht überrascht. Angesichts der vielen Nächte, die ich in ihrer Wohnung verbracht hatte, war es wohl keine Neuigkeit für sie. »Versprochen«, fügte sie noch hinzu und lächelte mich an. Sie hielt mir die offene Tüte mit den Bretzelchen hin. Während der restlichen Zugfahrt erzählten wir uns weitere vertrauliche Dinge. Wir redeten über unsere Liebsten, über Musik und über unsere Träume.
    Eva wollte auch aufs College gehen, »auf eins, an dem ich dann einfach die Tür zu meinem Zimmer zumache, absperre und den ganzen Tag lesen kann. Eins, auf dem man eine richtig gute Ausbildung bekommt. Oh, und es muss in der Natur liegen, außerhalb
einer Stadt. Wo es schön ist, mit Bäumen. Und ich möchte«, sagte sie noch, »dass Adrian mit mir mitkommt.« Dann fragte sie mich nach meinen Plänen.
    »Ich weiß nicht, wo ich hinmöchte … vielleicht an die Brown University? Ich habe jedenfalls gehört, die ist ganz gut. Oder irgendwo nach Kalifornien«, antwortete ich. »Sam und ich haben immer gesagt, wir würden mal zusammenleben … Ich möchte auch an einen Ort, an dem es schön ist.«
    Das Studentenwohnheim am Boston College war eine Welt für sich. Eva und ich teilten uns ein Zimmer. Ich warf meine Sachen auf mein Einzelbett und schloss mich meinen Mitschülern zu einem Erkundungsgang an. In den Fluren dieses mir so fremden und aufregenden Gebäudes war ich wie unter Strom. Wir jagten uns auf Strümpfen gegenseitig die Flure entlang und kreischten vor Lachen, wenn wir an den Getränkeautomaten, den aufgereihten Sportwimpeln und gelochten Stecktafeln, die mit Zetteln übersät waren und bis hoch an die Decke gingen, vorbeischlitterten. Monique, ein hoch aufgeschossenes Mädchen mit gelblichen Haaren und großen Ohrringen, jagte hinter Eva und mir her, und wir knallten schließlich alle drei auf den Fußboden und hielten uns den Bauch vor Lachen. Draußen vor dem Fenster lag ein

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