Als der Tag begann
einem Harvard-Alumnus oder der New York Times eingeschätzt wurde, hätte irgendwer mir gesagt, dass es anstrengende und nahezu aussichtslose Unterfangen sind, dann wäre ich niemals dort hingegangen. Aber ich kannte mich nicht gut genug aus, um meine Erfolgswahrscheinlichkeit abzuschätzen – ich war einfach nur bereit, mich der Aufgabe zu stellen. In den folgenden Jahren lernte ich, dass die Welt voll ist von Menschen, die dir sofort sagen, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist und wie wichtig es ist, realistisch zu bleiben. Aber ich habe auch gelernt, dass niemand, wirklich niemand weiß, was möglich ist, bis man selbst loszieht und es ausprobiert.
Als ich nach diesem weiteren Gespräch in den Fahrstuhl trat, hatte ich das untrügliche Gefühl, einen Schritt weitergekommen zu sein. Ich sah meine Läuferin in vollem Tempo angreifen, mit einer Hürde mehr hinter sich.
Freitag darauf klingelte das Telefon in unserer Wohnung. Ich war ziemlich irritiert über das Geräusch, da ich davon ausgegangen war, es sei längst abgeschaltet. Seit Wochen erhielten wir die Kündigungsschreiben für Telefon und Strom. Genau genommen war ich davon überzeugt, in ein paar Wochen alles zu verlieren, inklusive der Wohnung. Ich hatte schon geplant, was ich in meine Tasche einpacken würde.
»Ich würde gern mit Elizabeth Murray sprechen«, sagte eine sehr professionell klingende Stimme, als ich den Hörer abgenommen hatte.
»Ich bin Liz.«
»Mein Name ist Roger Lehecka vom New-York-Times -Stipendienprogramm … Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass Sie einer der sechs Kandidaten sind, die das Stipendium der New York Times gewonnen haben!«
Wirbelsturm. Dieses Wort kommt mir in den Sinn, wenn ich mein Leben nach der Auszeichnung mit dem Stipendium beschreiben soll. Ein Schleusentor war geöffnet worden, und ich hatte keinerlei Vorstellung davon, dass mein Leben danach nie mehr dasselbe sein würde. Wenn ich vorher den Einfluss der New York Times nicht einschätzen konnte, dann merkte ich hinterher ganz schnell, wie groß er tatsächlich war.
Die sechs Stipendiaten wurden eine Woche nach Bekanntgabe eingeladen, um in der Redaktion fotografiert zu werden. Lisa begleitete mich. Wir saßen mit den anderen Gewinnern und ihren Eltern wieder in demselben kleinen stickigen Raum. Lisa war hinreißend, wie sie sich immer wieder umsah und ihr Lachen zurückhielt.
»Wo sind wir hier nur gelandet?«, sagte sie kichernd. »Das ist wahnsinnig komisch.«
»Ich weiß«, antwortete ich und kicherte genauso los. Danach taten wir beide völlig unbeteiligt und saßen ganz ruhig da, zutiefst verwundert.
Ich wurde einmal mit der Gruppe fotografiert und dann noch mal allein. Für das zweite Foto brachte man mich mit dem Fahrstuhl nach oben in eine der Bibliotheken der New York Times . Diese endlosen Bücherregale erinnerten mich an die vielen Male, an denen Daddy mich mit in die Bibliothek mitgenommen hatte, damals, als wir noch in der University Avenue wohnten. Der Fotograf bat mich, auf einem breiten Fensterbrett Platz zu nehmen, mit der Sonne im Rücken. Als die Kamera bei den Aufnahmen klickte, überlegte ich, was Daddy wohl sagen würde, wenn er das hier mitbekäme. Und ich fragte mich, ob Ma mir von irgendwoher zusah.
Bis der Artikel mit den Porträts der sechs Gewinner auf der Titelseite des Metropolitan-Teils abgedruckt wurde und an allen Kiosken hing (neben einem Artikel über Bill und Hillary Clinton), war mir nicht bewusst gewesen, dass die ganze Welt ihn sehen würde. Jeder, sogar meine Lehrer an der Prep , würden alles über meine Lebensumstände erfahren. Ein Teil von mir hatte Angst, sie könnten deshalb anders über mich denken. Doch das Gegenteil war in Wahrheit der Fall. Perry und alle anderen Lehrer waren stolz auf mich. Aber sie brachten auch ihre Besorgnis zum Ausdruck, wie schwierig es sein würde, meine Miete zu bezahlen und stabil zu bleiben. Und meine Lehrer waren da nicht die Einzigen.
Ich hatte meine Schule in dem Times -Interview namentlich erwähnt, und daraus entstand etwas für mich völlig Unerwartetes, das ich schließlich die Engelsbrigade nannte. Mir völlig unbekannte Leute kamen an die Prep , um mich kennenzulernen, mir um den Hals zu fallen, mir aufmunternde Worte zuzurufen und mich mit Kleidern, Essen und Carepaketen zu versorgen. Sie kamen, um mir zu helfen, und sie wollten nichts dafür haben.
Wir bekamen haufenweise Post; Fotopostkarten mit lächelnden Familienmitgliedern, Einladungen aus ganz Amerika
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