Als der Tag begann
uns das einzige Geräusch weit und breit. Je mehr ich ihn bedrängte, desto weiter spazierten wir. Er erzählte mir Geschichten aus seinem Psychologiestudium am College und brachte mir Dinge bei, die er dort gelernt hatte; er bestand darauf, dass mir das irgendwann einmal nützlich sein würde. »Ich liebe dich, Lizzy«, sagte er mir immer wieder. Wir liefen so lange durch die leeren verschneiten Straßen, ohne irgendjemandem zu begegnen, bis ich das Gefühl hatte, da sei tatsächlich niemand mehr, als gehöre Daddy nur zu mir und die Welt uns allein. Und ich wusste, dass ich geliebt wurde.
Die Drogen wüteten wie eine Abrissbirne in unserer Familie, und auch wenn Lisa und ich davon in Mitleidenschaft gezogen wurden, wurde ich das Gefühl einfach nicht los, dass Ma und Daddy diejenigen waren, die beschützt werden mussten. Ich dachte, es sei meine Aufgabe, sie zu beschützen. Sie hatten so etwas Zerbrechliches an sich; die Art und Weise, wie ihre Sucht sie dazu brachte, jederzeit nachts aus dem Haus zu stürmen und ihre Sicherheit hintanzustellen, trotz der zahlreichen Nachrichten aus unserem Viertel über Vergewaltigungen, Raubüberfälle und Taxifahrer, die im Umkreis von zehn Blocks zu unserem Wohnhaus wegen ihrer Einnahmen abgeknallt worden waren.
Als wäre sie immun gegen Unheil und nicht offiziell für blind erklärt, schlängelte Ma sich mitten in der Nacht furchtlos die University Avenue entlang, obwohl es ihre Sehschwäche ihr schwer machte, sich auf den dunklen Straßen der Bronx zu orientieren. Ma war blind genug, um an jemandem, den sie kannte, auf dem
Bürgersteig vorbeizugehen – sogar an einem Familienmitglied –, ohne ihn zu erkennen. Aber sie war so vertraut mit Silhouetten und beweglichen Formen, um ein fahrendes Auto von einem parkenden zu unterscheiden oder eine Person, die auf sie zukam, von einer Person, die von ihr wegging, und sogar eine grüne Ampel von einer roten. Dennoch bewahrte das alles sie nicht davor, in gefährliche Situationen zu geraten.
Einige wenige Male wurde Ma in unserem Viertel angegriffen. Diese Vorfälle hatten mich maßlos erschreckt, und ich flehte sie an, zu Hause zu bleiben, aber nichts konnte Ma aufhalten, wenn sie sich zudröhnen wollte. Eines Nachts wurde sie mit vorgehaltenem Messer ausgeraubt. Sehr wahrscheinlich sah sie die Angreifer gar nicht auf sich zukommen; einem durchschnittlich gut sehenden Menschen wären sie wahrscheinlich aufgefallen. Sie kam mit einem blauen Auge, aufgeplatzten Lippen und der Geschichte nach Hause, wie wütend die Räuber geworden wären, als sie bei Ma nichts Wertvolles fanden, und sich deshalb an ihrem Gesicht abreagiert hätten.
Ein anderes Mal stürzte sie wie immer mit ihrem Koksbriefchen von der Eingangstür direkt in die Küche, und ich brauchte tatsächlich einen Augenblick, um den dreißig Zentimeter langen Riss in ihrer Jeans und das blutende Bein darunter zu bemerken. Ma sagte, ein Auto hätte sie angefahren.
»Nichts Ernstes, Lizzy. Es fuhr nicht besonders schnell, ich bin gleich wieder aufgestanden. Das Gleiche ist mir schon mal als Fahrradkurier passiert. Mir geht’s gut«, fasste sie es kurz und bündig zusammen, um Daddy sofort um ihre Spritze zu bitten. Entweder ignorierte Ma ganz und gar, dass sie in diesen Momenten dem Tod ins Auge sah, oder aber es war ihr egal. Es war schwer zu sagen. Sicher war nur, dass Ma, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, bereit war, alles dafür zu tun.
Blind, wie sie war, hatte Ma in den Siebzigern drei Wochen als Fahrradkurier auf den belebten Straßen Manhattans gearbeitet. Natürlich stellten sie normalerweise keine fast Blinden ein, aber
Ma brauchte Geld und sagte ihrem Chef nichts von ihrer Behinderung. Stattdessen borgte sie sich das Fahrrad eines Freundes, und weil sie pro Lieferung bezahlt wurde, strampelte sie in lebensbedrohlichem Tempo durch den Verkehr. Ma hatte den Job nach ihrem zweiten Unfall aufgegeben, aber nur, weil das Fahrrad ihres Freundes einen Totalschaden und sie keinen Ersatz gefunden hatte. Das war typisch Ma, nicht aufzuhalten, wenn sie fest entschlossen war, etwas zu bekommen; furchtlos und scheinbar blind gegenüber der Tatsache, wie vergänglich das Leben ist.
Daddy war nicht sehr viel besser darin, auf sich aufzupassen. Auf der Jagd nach Drogen wetzte er die University Avenue hinauf, mitten durchs Bandenterritorium und die gefährlichen Straßen wie Grand Avenue und 183th Street. Einmal kehrte er übel zusammengeschlagen zurück, frisches
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