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Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Murray
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atmete den strengen Geruch ihres Körpers ein und klammerte mich zitternd an ihre Bluse, sobald ich den Verdacht hatte, sie könnte sich mir entziehen.
    Ich versuchte wirklich, eine gute Schülerin zu sein. Ich wollte eins dieser Kinder sein, die die Hand hoben, immer die richtige Antwort wussten und ihre Hausaufgaben pünktlich abgaben. Wie Michelle,
die beim laut Vorlesen in der Klasse immer die Beste war. Oder wie Marco, der immer die richtigen Antworten in Mathe parat hatte. Ich versuchte, eine fleißige Schülerin wie sie zu sein, versuchte, gute Noten zu bekommen. Es klappte nur einfach nicht. Es war zu viel los.
    Vielleicht hätte mehr Schlaf in den Nächten, wenn Schule war, etwas genützt. Aber ich bekam keinen Schlaf, niemand sorgte dafür. Nahezu sieben Nächte in der Woche war ich Zeuge des schier endlosen Durchgangsverkehrs in unserer Wohnung. Ma und Daddy trabten hinein und hinaus wie unermüdliche Jogger, die ganze Nacht lang. Ihr Bedarf an Drogen war gestiegen und stärker außer Kontrolle geraten als je zuvor, und ihre Sucht wurde zur Aufführung eines vorhersehbaren Programmablaufs, der jeden Winkel der Wohnung beanspruchte. Wenn ich gewollt hätte, hätte ich den Met-Food-Kalender von der Wand nehmen, auf einen Tag tippen und im Voraus schätzen können, was wann passieren würde. Sie wurden so berechenbar.
    Sechs oder sieben Tage nach Monatsanfang hatten Ma und Daddy den Scheck der Sozialhilfe verprasst, und wir waren pleite. Gab es kein Geld mehr, weil der Scheck ausgegeben war – und das war er immer –, haute Ma Stammkunden in der Bar um ein paar Dollar an, entweder im Aqueduct oder im Mc Govern’s . Dort gab es eine Gruppe alter Männer, von denen sie einen Dollar hier, zwei Dollar da erhielt, das Restgeld von einem Fünfer oder Zehner, der in der Bar ausgegeben worden war. Manchmal bat sie um ein paar Quarter für die Jukebox und steckte stattdessen alles ein. Manchmal nahm Ma Männer mit auf die Toilette oder nach draußen in eine Seitengasse, und nach ein paar Minuten mit ihnen allein hätte sie sogar noch mehr verdienen können.
    Ma machte das so lange, bis sie genug für einen Schuss zusammenhatte. Das Minimum waren fünf Dollar für ein Briefchen Kokain, was jedoch nur für einen wertlosen Höhenrausch reichte, den Rausch eines Süchtigen. Nach ihrer Rückkehr aus den Kneipen erstattete Ma Daddy sofort Bericht: »Peter, ich habe fünf Dollar.
Fünf, Petie.« Dann zog er sich still und leise seinen Mantel über, falls Lisa noch wach war, bevor er sich aus dem Haus zu schleichen versuchte.
    Daddy wusste, er hätte keine ruhige Minute mehr gehabt, wenn Lisa ihn dabei erwischte, wie er loszog, um Drogen zu organisieren, während wir Hunger hatten. Keine Chance, den Beschimpfungen, Flüchen, Tränen und dem Gezeter zu entgehen.
    »Du kannst das Geld nicht einfach ausgeben! Wir brauchen etwas zu essen! Ich bin am Verhungern, mein Bauch tut weh! Wir haben nichts zu Abend gegessen, und du willst dich zudröhnen?«, schrie sie dann herum.
    Hörte ich Lisa bei ihren Gefechten mit Daddy und Ma zu, wusste ich, dass sie recht hatte. Es gab keine Entschuldigung, dass sie all unser Geld für Kokain ausgaben, wenn der Kühlschrank nur noch ein Glas umgekippter Mayonnaise und einen vergammelten Kopfsalat beherbergte. Natürlich war Lisas Wut gerechtfertigt.
    Aber für mich war die ganze Situation nicht immer so eindeutig, nicht so wie für Lisa. Ma sagte, sie brauche die Drogen als eine Hilfe, all die schlechten Erinnerungen, die sie verfolgten, vergessen zu können, die Gedanken an ihre Mom und ihren Dad, wegen deren sie sich den ganzen Tag über elend fühlte. Und auch wenn ich nicht wusste, was genau in seiner Vergangenheit Daddy dazu brachte, sich zuzudröhnen, so war mir trotzdem klar, dass es etwas sehr Schmerzliches sein musste, denn wenn Daddy nicht high wurde, saß er tagelang in sich zusammengesunken auf dem Sofa mit einer durch Entzugserscheinungen ausgelösten Depression. In diesem Zustand erkannte ich ihn nicht wieder.
    Lisas Forderung an unsere Eltern war einfach – alles, was sie wollte, war eine warme Mahlzeit und dass sie besser für uns sorgten. Das wollte ich auch. Und trotzdem kam ich nicht umhin zu bemerken, dass, wenn Lisa und ich den ganzen Tag nichts gegessen hatten, Ma und Daddy selbst auch den ganzen Tag nichts zu sich genommen hatten. Und wenn ich einen neuen Wintermantel
brauchte, dann fiel mein Blick immer wieder auf Daddys Sneakers, die völlig zerschlissen waren und nur

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