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Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Murray
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Blut im ganzen Gesicht, am Hals und auf dem Hemd verteilt. Nur eine Straße weiter unten hatte ein Mann seinen Kopf auf den Asphalt geschlagen, und Daddy hatte über eine Stunde gebraucht, um nach Hause zu wanken. Aber schon am nächsten Tag war er wieder unterwegs, um sich Drogen zu beschaffen. Genau wie bei Ma war seine Sucht so stark, dass er Nacht für Nacht seine Sicherheit aufs Spiel setzte, den Blick nur starr auf sein Ziel gerichtet und nicht auf die Gefahren in seiner Umgebung. Dieses Ziel war die blaue Tür auf der Grand Avenue, wo er dann die Treppe hochging, um Mas zerknitterte Dollarscheine glatt zu streichen und dem Drogendealer auszuhändigen, im Austausch für die Briefchen mit dem Pulver, das die Welt meiner Eltern regierte.
    Auch wenn am nächsten Tag Schule war, konnte ich nachts nicht schlafen. Jemand musste am Fenster sitzen und die Zeit messen, wie lange sie brauchten, um zurückzukommen. Jemand musste für ihre Sicherheit sorgen. Durchschnittlich dauerte ein Drogenkauf dreißig bis vierzig Minuten. Dauerte es länger, verhieß das nichts Gutes. »9-1-1«, murmelte ich die Notrufnummer vor mich hin, als ich mich aus dem Fenster lehnte, um Daddy dabei zu beobachten, wie er die Straße entlangzog und bis zur Kurve
der University Avenue immer kleiner wurde, auf dem Weg zu einem Drogendeal. Sollte er in Schwierigkeiten geraten, hatte ich einen festen Plan. Wir hatten oft kein Telefon, weil wir die Rechnungen nicht bezahlten, aber ich konnte in wenigen Augenblicken unten in der Telefonzelle sein.
    Aber das waren längst nicht alle nächtlichen Aufgaben, die ich zu erledigen hatte. Während ihrer unzähligen Drogentrips blieb ich Stunde um Stunde an der Seite meiner Eltern, immer auf der Suche nach Gelegenheiten, ihnen behilflich zu sein. Ma und Daddy waren bereit, mich an ihrem geschäftigen Treiben teilhaben zu lassen, und ich war begeistert, ein Teil davon zu sein. Ein Weg, Daddy bestmöglich zu unterstützen, bestand meiner Meinung nach darin, ihm zu helfen, sich an Lisa vorbeizuschleichen, die ganz sicher protestieren würde, sollte sie ihn beim Weggehen erwischen. Da ihr Zimmer nun mal genau neben der Eingangstür lag, war es ziemlich schwierig für Daddy, unbemerkt aus dem Haus zu schlüpfen. Das war mein Einsatz.
    Ich schob dann im Flur zur Haustür Wache, während er sich abseits hielt. Ich fühlte mich verwegen, wie eine Figur aus Daddys Lieblingsserie Hill Street Blues , so als wären wir Komplizen.
    »Sag mir Bescheid, wenn die Luft rein ist«, wisperte er in Hut und Mantel und hinter der Trennwand zum Wohnzimmer versteckt, bis ich ihm das Signal gab.
    »Jetzt.« Auf seinem Weg nach draußen nickte Daddy mir jedes Mal anerkennend zu, und das löste in mir eine Welle von Glücksgefühlen aus. Wir waren ein Team. »Keine Sorge«, flüsterte ich ihm im Treppenhaus zu, »ich sorge für deine Deckung.«
    Und wie sollte ich ins Bett gehen, wenn Ma ganz aufgekratzt war und ihre »Arbeitsutensilien« ausbreitete, während sie auf Daddys Rückkehr mit den Drogen wartete? Um keinen Preis der Welt konnte ich diese kurzen Momente vorbeiziehen lassen, wenn sie redselig war und ihre bernsteinfarbenen Augen vor Aufregung leuchteten. Die Schule hätte nicht weiter weg sein können, wenn Ma und ich eine für uns ganz besondere Zeit miteinander verbrachten.
Wir saßen dann im Wohnzimmer, redeten über ihre Jugend in den späten Sechzigern und frühen Siebzigern in Greenwich Village.
    »Du hättest mich mal sehen sollen, Lizzy. Ich trug immer enge schenkelhohe Stulpenstiefel mit Clogsabsätzen.«
    »Wirklich?« Ich tat immer so, als hätte sie mir diese Geschichten nicht schon hundertmal erzählt, und spielte ihr stattdessen vor, jede Anekdote sei neu für mich, Entsetzen und Neugier inklusive.
    »Jawohl, wirklich. Ich hatte auch eine Afrofrisur. Meine Haare waren immer zu kraus, das liegt an meinen italienischen Wurzeln. Aber jeder machte irgend so was. Dein Vater hatte enorme Koteletten, Gesichtsfell nannten wir das. Kein Scheiß!«
    In diesen Nächten redete Ma mit mir wie mit einer alten Freundin, und sie ließ kein Detail über ihr Leben auf der Straße, die Drogenszene, Sex mit ihren alten Freunden und vor allem über die Kränkungen in ihrer Kindheit aus. Ich tat so, als wäre nichts von dem, was Ma offenlegte, verwunderlich oder vulgär. Vielmehr spielte ich die Abgebrühte und versuchte Ma ein Gefühl von Verständnis zu vermitteln, indem ich gelegentlich zustimmend nickte, auch bei Dingen, die ich

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