Als der Tag begann
Ich ging auf Zehenspitzen hinüber zu Mas und Daddys Bett. Keiner der beiden bewegte sich, sie schliefen fest. Dann hörte ich im Hausflur Stimmen, die sich unterhielten, irgendwas über einen schlechten Geruch sagten. Ich wusste, dass sie über unsere Wohnung redeten. In den letzten Monaten hatten Ma und Daddy nicht oft geputzt. Der Schmutz sammelte sich auf allem und jedem. Ein zerbrochenes Fenster aus einer Nacht, als Ma die Beherrschung verloren und sich bei dem Schlag die Hand aufgeschlitzt hatte, blieb zerbrochen. Nach besten Kräften wehrten wir Regen und Schnee in der Küche durch eine zeitweilig aufgeklebte Plastiktüte ab. Aber es funktionierte nicht richtig, und so war die Küche oft nass und die Wohnung eiskalt. Lisa und ich bekamen in jenem Winter beide eine Grippe. Außerdem war der Kühlschrank kaputtgegangen, und seitdem deponierte Daddy Milchtüten und Frischkäse auf dem Fensterbrett. Was die Leute im Hausflur da allerdings rochen, das musste die Badewanne sein.
Irgendwie war der Abfluss verstopft. Lisa duschte trotzdem darin, indem sie erst mit einem Eimer genügend kaltes Wasser abschöpfte
und ihn dann umdrehte und sich draufstellte, eine kleine Insel inmitten der dreckigen Brühe. Sie machte das regelmäßig so, aber das von ihr verbrauchte Wasser stagnierte ebenfalls und war im Lauf der Monate schwarz geworden. Identischer schwarzer Schleim sammelte sich am Rand der Wanne. Und wenn man durch das Wasser rührte, stieg ein sumpfiger Geruch daraus auf. Das Klopfen ließ einen Moment lang nach, und die Stimmen schoben ein Blatt Papier durch den Türspalt. Ein paar Minuten später hörte ich die beiden weggehen.
Aus meinem Zimmerfenster sah ich hinaus auf die Straße. Ein dunkler Mann mit Aktenkoffer und eine brünette Frau in einem langen Mantel näherten sich einem in der zweiten Reihe geparkten Auto. Der Mann blickte nach oben, und ich duckte mich weg, überzeugt davon, von ihm gesehen worden zu sein. Aber sie fuhren einfach los.
Langsam schlich ich zur Tür und hob das Papier auf. Es wies den oder die Erziehungsberechtigten oder den Vormund von Elizabeth Murray hiermit an, einen Mr Doumbia in Sachen Schulversäumnisse der oben genannten Person anzurufen. Am Rand des Blattes stand eine Telefonnummer, gleich neben einer Cartoon-Zeichnung, in der ein Erwachsener die Hand eines Kindes hielt. Die exakte Bedeutung von »Schulversäumnisse« kannte ich nicht, aber ich nahm an, dass es etwas mit meinem Nichtauftauchen in der Schule zu tun hatte.
Ich vergewisserte mich noch mal, dass Ma und Daddy nichts gehört hatten. Dann faltete ich das Blatt Papier zusammen und zerriss es, wieder und wieder, und verteilte die kleinen Überreste an verschiedenen Stellen im Müll unter nassem Papier, Bananenschalen und Bierdosen, bis nichts, aber auch gar nichts mehr davon zu sehen war.
Eines Nachts kam Ma nach Hause und verkündete, sie hätte gerade eine neue Freundin in der Nachbarschaft gefunden, eine Frau namens Tara.
»Ich stand gerade Schlange, da, wo’s die Drogen gibt, und wollte mir ein Briefchen besorgen, und da sah ich diese andere weiße Frau herumstehen. Das ist echt selten, wisst ihr? Also hab ich sie angesprochen.« Ma legte eine Pause ein und schien sich jetzt und hier in unserem Wohnzimmer zu entscheiden: »Ich mag sie.«
Sie verstanden sich so prächtig, dass sie von dannen zogen und ihr Kokain zusammen in Taras Wohnung auf der 233rd Street, Ecke Broadway, konsumierten. Kurz darauf waren Ma, Lisa und ich ständig dort.
Tara hatte eine formlose blonde Haarpracht, vorn kurz, hinten lang, und ein nervöses Zucken im Gesicht, wenn sie gereizt war. In ihren unförmigen Pullovern und den zerrissenen stone-washed Jeans hätte sie für immer und ewig auf dem Weg zu einem Schüttelmähnen-Rockkonzert der Achtziger sein können, wäre da nicht ihr Alter, das wahrscheinlich so bei Anfang vierzig lag. Ihre siebenjährige Tochter, Stephanie, war ein Wildfang, jederzeit anfällig für grundlose Wutausbrüche, was dazu führte, dass Lisa und ich uns erbarmungslos hinter ihrem Rücken über sie lustig machten. Mit ihrem olivenfarbenen Teint, den schmalen, dunklen Augen und dem lockeren schwarzen Haar hatte sie eher das Aussehen ihres Vaters, zu dem Tara aber keinen Kontakt pflegte. Ma erzählte mir, er sei in den Siebzigern mal ein ziemlich berühmter Schauspieler in einer Komödie gewesen. Aber von dem ganzen Geld, das er da verdient hatte, bekam Stephanie laut Tara gar nichts ab.
In Taras Wohnung
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