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Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Murray
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wäre?
    Als Mrs McAdams mit den Leseübungen durch war, wiederholte sie ein paar schwierige Matheaufgaben, die mir rein gar nichts sagten. Jede Minute in der Klasse dauerte eine gefühlte Stunde. Während sie redete, schlug ich die Zeit tot, indem ich mir Gründe für die Schulkrankenschwester ausdachte, mich unbedingt früher nach Hause zu schicken: Bauchweh, Grippe, Fieber, Pest.
    Immerhin waren sie halbwegs wahr. Jedes Mal wenn Mrs McAdams durch den Raum blickte und nach dem Zufallsprinzip einen Schüler für die Beantwortung einer Frage aufrief, wurde mein Bauch von stechenden Schmerzen durchbohrt, und ich fühlte mich so zittrig, dass ich dachte, ich müsste mich übergeben.
    Als endlich die Klingel läutete, stopfte ich schnell meine Unterlagen in die Tasche. Ich versuchte immer vor allen anderen Schülern aus dem Zimmer zu schlüpfen. Sie machten mich nervös. Lief ich beim Verlassen des Klassenzimmers zwischen ihnen, verspannte sich mein ganzer Körper. Wenigstens hatte Ma, dachte ich, irgendwann die Läuse von meinem Kopf entfernt, unter Zuhilfenahme von »Quell« und einem Kamm. Trotzdem war ich eindeutig anders als sie. Sie wussten es, genau wie ich; ihre Blicke waren der Beweis dafür. Meine ungewaschenen Kleider hingen unförmig an mir herunter. Meine Socken waren immer seit mehreren Wochen ungewaschen, und meine Unterwäsche trug ich, bis sich der Zwickel in nichts auflöste. Ich selbst war mir des Gestanks, den ich absonderte, bewusst, also wusste ich, dass sie ihn auch bemerkt haben mussten.

    Wen kümmert’s, was die Leute denken? , hatte Daddy gesagt. Das ist deren Problem . Ich versuchte mir einzureden, dass ihr Urteil bedeutungslos war. In gewisser Weise durchlief ich das Leben viel schneller als sie alle zusammen – wer sonst fluchte im zarten Alter von nur sechs Jahren locker in Gegenwart seiner Eltern, ging ins Bett, wann immer es ihm passte, wusste über Sex Bescheid und konnte ungefähr zeigen, wie man sich Drogen spritzte? Dieses Wissen vermittelte mir ihnen gegenüber ein Gefühl von Reife. Trotzdem, auf eine Art, die ich nicht genau ausmachen konnte, wirkten die anderen Kids bei Weitem besser beieinander als ich, in dem Sinn, dass sie richtige Kids waren. Die Art und Weise, wie sie sich so leicht zusammentaten und anfreundeten oder ihre Hand hoben, um eine Frage der Lehrerin zu beantworten, und dabei so viel Selbstvertrauen ausstrahlten, wirkte bedrohlich auf mich. Möglicherweise wurde ich schneller erwachsen, aber ich hatte Angst, dass ich vielleicht zu viele Schritte auf dem Weg ausließ und Abkürzungen nahm, durch die ich mich dann zerrissen fühlte, voller Lücken. Anders.
    Genau dieses Gefühl, anders zu sein, nagte an mir, sobald ich das Klassenzimmer betrat. Es erschöpfte mich zunehmend und durchfuhr meinen Bauch mit scharfen Stichen. Ich war immer dankbar, wenn der Unterricht zu Ende ging und ich endlich nach Hause gehen konnte.
    Und so war ich schon bald wieder draußen und nach einem schnellen Marsch zu Hause, den Schultag Gott sei Dank weit hinter mir gelassen. Ich war einfach nur froh, irgendwo zu sein, wo ich mich ausruhen konnte. Und genau das tat ich, den ganzen Nachmittag bis in den Abend hinein. Ich schlief auf dem Sofa, um mich im Zentrum der Wohnung aufzuhalten, mitten im Geschehen.
    Im folgenden Monat, im Dezember, nach wochenlangem Einreden auf Ma, wie sehr mich die Schule deprimierte, erlaubte sie mir, wider das, was sie ihr besseres Wissen nannte, die meiste Zeit zu Hause zu bleiben.

    Gemeinsam sahen wir uns wieder Unterhaltungsshows im Fernsehen an und aßen auf dem Sofa Mayonnaisesandwichs. Daddy schlief bis in den frühen Nachmittag hinein und wurde jedes Mal ziemlich wütend, wenn er mich beim Aufwachen zu Hause vorfand. »Lizzy! Du bist wieder zu Hause geblieben?«, rief er dann, als ob ihn das, was mit schöner Regelmäßigkeit stattfand, irgendwie überraschte. »Nächstes Mal gehst du wieder hin, okay?«, befahl er dann, ohne das Ganze durch eigenständiges morgendliches Wecken weiterzuverfolgen. Er fand mich immer wieder zu Hause vor, Tag für Tag, und schüttelte nur den Kopf.
    Eines Donnerstags, nach drei Wochen Auszeit, an einem Morgen, an dem Lisa erneut den Kampf ums Anziehen mit mir verloren hatte, klopfte es hart an der Tür. Ich war die Einzige, die wach war, um darauf zu reagieren. Vom Flur aus hörte ich zwei Personen miteinander reden: eine Frau und einen Mann. Sie klopften noch mal an, diesmal lauter, und brachten so mein Herz zum Rasen.

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