Als der Tag begann
wenn sie die Drogen nicht so dringend bräuchten, viel mehr Zeit mit Lisa und mir verbringen würden. Sie würden alles besser machen, wenn sie nur könnten.
»Liz, steh verdammt noch mal endlich auf!« Lisa hatte jegliche Geduld für meine Schulschwänzerei bereits verloren, als ich noch in der Vorschule war. Bis ich in die erste Klasse kam, befand sie sich regelrecht im Krieg mit mir.
»Jeden Tag dieselbe Scheiße, steh endlich auf!« Sie riss mir die Decken vom Leib, was mich frieren ließ. Draußen vor dem Fenster stoben die Kinder los, um den Bus zu erwischen. Eine Frau in einem blauen Regenmantel dirigierte sie mit Pfiffen aus ihrer Trillerpfeife. Ich konnte nicht mehr als zwei Stunden geschlafen haben.
Ohne darum gebeten zu werden, stand Lisa jeden Morgen, angetrieben von einer rätselhaften inneren Kraft, beim Kreischen ihres Weckers auf, wusch sich das Gesicht und nahm eins von zwei oder drei abgetragenen Hemden vom Haken in ihrem Kleiderschrank. Sobald sie angezogen war, begann sie ihr gewohntes Gefecht an meinem Bett.
Sie begann ganz freundlich, stupste meine Schulter an und rief sanft und aufmunternd: »Lizzy, Zeit zum Aufstehen … Lizzy, der Tag hat begonnen.« Aber sie brauchte nicht lange, um zu begreifen, dass sie eine härtere Gangart fahren musste, um mich wach zu kriegen, geschweige denn zum Anziehen zu bewegen.
Monate vergingen, in denen Lisa mir Dutzende Male die Decke vom Leib riss und dadurch meine Arme und Beine der beißenden Kälte in unserer selten geheizten Wohnung aussetzte. Zu meiner Verteidigung rollte ich mich dann zu einer Kugel zusammen und hielt mein Kissen umklammert, während sie an den greifbaren Enden zog und darum kämpfte, meine Umklammerung zu lockern. In diesen Augenblicken hasste ich sie mehr als die Vorstellung, zur Schule zu gehen, mehr als die Gesichter der schrecklichen, höhnischen Kinder, die ich während des gesamten Kampfes
um mein Zuhausebleiben vor Augen hatte. Und ganz besonders verübelte ich ihr das Vergnügen, das es ihr bereitete und das ich so genau spürte, mir gegenüber in die Rolle des Erziehungsberechtigten zu schlüpfen.
»Ich bin deine ältere Schwester«, rief sie dann, »du musst auf mich hören. Ich kippe dir gleich kaltes Wasser über den Kopf, wenn du deinen Hintern nicht vorwärtsbewegst !«
Und das war wortwörtlich so gemeint. Lisa goss mir eine Tasse eiskaltes Wasser über den Kopf, und ich war stinksauer auf sie. Aber an manchen Tagen konnte mich noch nicht einmal der Umstand, nass zu sein und zu frieren, aus dem Bett befördern.
In jenen Morgenstunden, nachdem ich mit Ma und Daddy aufgeblieben war, fühlte es sich an, als hätte ich mich nur einen Moment lang hingelegt, bevor Lisa sich ärgerlich und genervt über mich beugte. An diesem einen besagten Morgen zog ich mir also widerwillig das an, was ich an Klamotten die Nacht vorher irgendwohin geschmissen hatte. Ich ging dabei auf Zehenspitzen hin und her, um Ma und Daddy nicht aufzuwecken. Nur Lisa schien nicht zu merken, dass sie schliefen. Alle fünf Minuten verkündete sie lautstark die genaue Uhrzeit, um mich zu ermahnen, dass wir zu spät kämen, wenn wir uns nicht beeilten. Vor der Tür machte mich dann die kalte Luft, die mir ins Gesicht schlug, ein wenig munter; allerdings hatten dann das Neonlicht und die lauten Stimmen im Klassenzimmer der Public School 261 genau den gegenteiligen Effekt. Sie schläferten mich ein, und dadurch fühlte sich mein ganzer Kopf benommen an. Inzwischen hatte sich mein gesamter Lerneifer sowieso in Luft aufgelöst.
Jeden Tag diktierte Mrs McAdams Leseübungen, die ich schon fast allein bearbeiten konnte. Ma hatte mir so oft an meinem Bett aus Horton hört ein Hu! vorgelesen, dass ich herausfand, wie ich es allein lesen konnte, was wiederum zu Versuchen führte, mir auch andere Sachen vorzunehmen. Lisas Englischbuch für die dritte Klasse zum Beispiel und kurze Abschnitte aus Daddys Büchern über wahre Verbrechen, die er in der ganzen Wohnung verteilt hatte.
Daher war es ein Leichtes, die schrittweisen Erklärungen der Lehrerin zu richtiger Orthografie und Grammatik zu ignorieren und meiner Erschöpfung das Feld zu überlassen. Ich ließ mich treiben und meinen Blick durchs Zimmer schweben, bis sich meine Augen irgendwann ganz schlossen. Halb wach fragte ich mich, ob Ma wohl schon aufgewacht war. Wenn ja, sah sie sich dann The Price Is Right ohne mich an? Hatte sie Lust auf einen Spaziergang? Würde sie mich mitnehmen, wenn ich zu Hause
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