Als der Tag begann
und Daddy in der Stadt war, schlich ich mich auf leisen Sohlen am Sofa vorbei, um das Fenster zu
schließen und Ma vor Durchzug zu bewahren oder um ihren nackten Körper mit einem Laken zuzudecken. Beim Hereinkommen roch ich schon den sauren Bieratem, der sich durch ihr Schnarchen im Raum verteilte. Wenn sie wach war, ging Ma unaufhörlich in der Wohnung herum und fand alles deprimierend. Sie besorgte sich mehrmals am Tag in der Kneipe Einliterflaschen Budweiser, die sie in riesigen Schlucken hinunterstürzte, wobei sie gelegentlich in Tränen ausbrach.
High zu werden wurde eins der letzten Dinge, die Ma und Daddy noch gemeinsam durchlebten. Wenn sie sich nicht gerade zudröhnten, las Daddy die Bücher auf seinem Nachttisch und brach manchmal in so lautes Gelächter aus, dass ich es bis ins Badezimmer hören konnte. Daddy ging den Streitereien neuerdings aus dem Weg, abgeschirmt in seinem alleinigen Schlafzimmer und in Anwesenheit seiner Bücher. Die einzigen echten Sorgen, die er sich noch machte, betrafen seine persönliche Umgebung. Solange alles an Ort und Stelle war – seine alten, vergilbten und auf eine sehr eigenwillige, aber lebenswichtige Art und Weise gestapelten Zeitschriften, die leere Saftflasche Sunny Delight neben seinem Bett, durch die er nachts regelmäßige Ausflüge ins Bad vermied –, konnte Daddy stundenlang ohne Unterbrechung dort liegen. Er habe kein Problem, sich zu entspannen, sagte er, wenn sich nur jeder daran halten würde, den verdammten Deckel auf der Pepsi-Flasche fest zuzudrehen, oder wenn er nur verstehen könnte, warum alle dachten, zwei Scheiben Truthahnbrust wären zu wenig für ein Sandwich, oder wenn er wüsste, und zwar ganz sicher, dass alle Herdknöpfe ausgeschaltet wären.
Immer wenn Mas und Daddys Auseinandersetzungen zu heftig wurden, sperrten Lisa und ich uns in unsere Zimmer am anderen Ende der Wohnung ein, sie mit ihrer Musik und ich mit meinen Büchern. Ich saß an meinem Schreibtisch, wo ich stundenlang lesen konnte. Ich arbeitete mich sehr langsam durch Daddys Bücher über wahre Verbrechen, seine Biografien und seine Bände über mehr oder weniger wissenswerte Nebensächlichkeiten. Eines Tages
las ich dann schnell genug, um eins seiner Bücher in etwas mehr als einer Woche zu beenden. Und obwohl meine Schulbesuche nur punktuell stattfanden, sollte ich das Examen am Jahresende bestehen. Sogar wenn ich mich überhaupt nicht im Unterricht blicken ließ, konnte ich mir einen Reim auf fast den gesamten literarischen Stoff machen, der mir vorgelegt wurde. Da ich regelmäßig gute Noten in meinen Prüfungen erhielt, wurde ich immer in die nächste Klasse versetzt, egal ob ich tatsächlich etwas in der Schule lernte.
Dennoch dauerte es nicht lange, bis ich nach einem Ventil jenseits der Schule, jenseits meiner Lektüre und unserer Wohnung suchte. Gleich nach der ersten Klasse begann ich auf der Suche nach etwas, was meine Gedanken von meiner Familie ablenkte, tägliche Runden durchs Viertel zu drehen. Im Juli 1987 hatten mich diese Gänge zu Rick und Danny geführt. Als Brüder mit zwei Jahren Altersunterschied wurden sie überall für Zwillinge gehalten. Beide hatten den gleichen karamellfarbenen Hautton, das gleiche breite Grinsen und den gleichen Bürstenschnitt. Ich war ein Jahr jünger als Rick und ein Jahr älter als Danny, eine Tatsache, aufgrund derer ich mich wie ihre Schwester fühlte, mal abgesehen von ihrer puertoricanischen Abstammung.
Zum ersten Mal begegneten wir uns an einem Morgen, als Rick und Danny auf der University Avenue auf einer weggeworfenen Matratze spielten. In dem Augenblick, als ich sie sah, dachte ich gleich, dass sie anders als die Kinder in der Schule aussahen – dreckig, fast verwahrlost, genau wie ich –, was es für mich einfacher machte, auf sie zuzugehen.
»Darf ich mit auf euer Trampolin?«, fragte ich Rick, als er und sein Bruder vor mir auf- und absprangen.
»Klar, nur zu«, antwortete er und hopste grinsend zur Seite.
Über eine Stunde lang spielten und quatschten wir zu dritt an jenem Tag. Ehrfürchtig stellten wir unsere Gemeinsamkeiten fest. Danny hatte an der Public School 261 dieselbe Vorschullehrerin wie ich gehabt. Macaroni & Cheese von Kraft war auch ihr Lieblingsessen.
Rick mochte ebenfalls Versteckspielen lieber als Abklatschen, und wir hatten am selben Tag Geburtstag, auch wenn er ein Jahr älter war. Ein paar Stunden später fand ich mich in Ricks und Dannys blitzsauberer Wohnung mit drei Schlafzimmern wieder,
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