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Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Murray
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umgeben von seiner Familie, die aus ihrem älteren Bruder John, dem kleinen Bruder Sean, ihrem Stiefvater und ihrer Mutter, die auch Liz hieß, bestand. Liz war eine gutmütige Frau, die nach Oregano duftete und mich herzlich anlächelte, als sie mir eine riesige Portion Reis und Bohnen auf den Teller schaufelte. Danach kämpften wir bis spät in die Nacht im Zimmer der beiden Jungen in Videospielen verbissen gegeneinander. Irgendwer hatte dann im unteren Bett eines Etagenbetts, in dem ich in meinen Sneakern eingeschlafen war, eine Decke über mich gebreitet.
    In den drei folgenden Jahren verankerte ich mich fest mit einem Bein in Ricks und Dannys Großfamilie. Durch unzählige Übernachtungen und spanische Abendessen bei ihnen zu Hause, durch von Liz angeführte Familienausflüge in Themenparks und in den Zoo der Bronx bahnte ich mir meinen Weg zu zahlreichen Auftritten in Fotoalben und Videos der Familie. Ich hatte meine stille Freude bei der Vorstellung, dass irgendein Fremder oder neuer Freund der Hernandez, dem man vielleicht die Erinnerungsstücke zeigte, mich dort sehen konnte, zwischen den Seiten ihrer Familienalben, wie ich ganz selbstverständlich bei der Kommunion der Jungs neben ihnen stehe oder wie ich meinen Arm während eines der gelegentlichen Ausflüge locker um ihre Großmutter lege, und dabei Rick, Danny, John und Sean immer neben mir, Seite für Seite gemeinsam älter werdend. Mein Lieblingsbild war eins von Rick und meinen gemeinsamen Geburtstagspartys. Liz dachte immer daran, die Bäckerei Valencia unsere beiden Namen in Glasurschrift auf die Ananastorte schreiben zu lassen. Dutzende Fotos hielten uns beide fest, wie wir die doppelte Anzahl von Kerzen auspusten und Liz wild dazu klatscht, ihre Hände im Bewegungsablauf eingefangen, so lebendig und ausdauernd wie die Flügel eines Kolibris.

    Ich mochte Ricks und Dannys Familie wirklich gern, dennoch erwähnte ich, wenn ich bei ihnen war, niemals meine eigene Familie oder gab den Tatsachen entsprechende Einzelheiten über mein Zuhause preis. Es war nicht so, dass Rick, Danny oder Liz niemals Fragen stellten, aber ich war so gut darin, meine Geheimnisse zu bewahren, indem ich entweder sofort das Thema wechselte oder Sachen über mich zur Sprache brachte, die ihnen nur ein grobes Bild vermittelten. Ich benutzte Gummiringe, um mir aus meinen golfballgroßen Filzknoten im Haar einen schlampigen Pferdeschwanz zu binden. Wegen der beschämenden schmutzigen Stellen an meinem Hals sorgte ich gleich bei meiner Ankunft dafür, ihr Badezimmer zu benutzen, wo ich dann meinen Hals über dem Waschbecken abschrubbte, bis sich der Dreck in kleinen Röllchen löste und meine Haut vom starken Reiben leuchtend rosa geworden war. Und um den ranzigen Geruch zu überdecken, der aus meinen vergammelten Sneakern aufstieg, sobald ich sie bei Übernachtungen auszog, versuchte ich immer, meine Schuhe an einer abgelegenen Ecke in der Wohnung zu verstecken, im Schrank der Jungs oder hinter dem Mülleimer in der Küche, wo Liz den Gestank fälschlicherweise dem Müll zuschrieb. Wenn es mir möglich war, die Dinge, aufgrund derer ich mich anders fühlte, zu verbergen, konnte ich mich leichter entspannen und wirklich dazugehörig fühlen. Genauso hielt ich, wenn ich in unsere Wohnung zurückkehrte, auch Dinge vor meiner Familie zurück.
    Instinktiv war mir klar, dass ich Ma und Daddy keinen vollen Einblick in meine Erlebnisse mit Rick und Danny geben sollte, und vor allem nicht in die mit Liz. Wenn Ma hackedicht auf dem Sofa lag, ihr Kopf von Fliegen umkreist wurde und Zigarettenkippen in der Bierflasche neben ihr schwammen, dann kam es mir einfach nicht richtig vor, ihr zu erzählen, dass ich meinen Tag bei einem Picknick am Pool verbracht, in der Sonne gespielt und selbst gekochtes Essen mit Ricks und Dannys Familie gegessen hatte. Das Gleiche galt für Daddy und Lisa. Jeder Funken Freude, den ich außerhalb unseres Zuhauses erlebte, fühlte sich wie eine Art
Verrat an. Ich kam dahinter, dass ich mich eigentlich immer versteckte; es gab weder in unserer Wohnung noch bei Rick und Danny noch in der Schule noch sonst wo Platz für mich als Person mit all meinen Facetten. Alles musste getrennt bleiben. Wollte ich, ohne dass von mir Notiz genommen wurde, in der Schule durchkommen oder zu Hause eine »brave« Tochter oder »normal« zu meinen Freunden sein, dann musste ich immer Teile meines Selbst sorgfältig wegpacken.
    Mehr und mehr reizte es mich, in dem Sommer, als ich neun

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