Als der Tag begann
Münzen war, die man von den Narcotics Anonymous für eine bestimmte Anzahl drogenfreier Tage bekam, als Symbol für erreichte Fortschritte und für die noch ausstehenden Kämpfe. Ma wusste die Ironie, die Münze von einem Drogendealer bekommen zu haben, in keinerlei Hinsicht zu würdigen. Zusammengebrochen auf ihrem Bett, zitternd vor Entzug, wurde sie von Schmerzen verzehrt und litt unter ihrem Verlangen nach Drogen.
Ich blieb bei Ma, bis sie eingeschlafen war, ging dann in mein Zimmer und kroch unter meine Decken, wo ich mich dann der Münze widmete. Später mal würde ich die Münze jahrelang in
meiner Kommodenschublade verstauen. Von Zeit zu Zeit holte ich sie dann hervor, nur um mit meinem Daumen über die Gravierung zu fahren und über ihr Rätsel zu staunen, das »Gelassenheitsgebet«.
Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.
Obwohl ich die Bedeutung nicht genau verstand, erkannte ich dieses Gebet als eines aus Mas zahllosen NA-Meetings. Die Treffen waren durchstrukturiert: Die Süchtigen trugen jedes Mal gemeinsam im Keller einer kommunalen Kirche das Gelassenheitsgebet vor und fassten sich dabei an den Händen, während sich ihre Kinder, Lisa und ich eingeschlossen, durch die Gratisdonuts und die zu süße Limonade arbeiteten. Einmal zu Beginn der Sitzung, und dann noch einmal am Ende: Gott, gib mir die Gelassenheit … Es war die Klammer aller NA-Meetings, zusammen mit den Erfahrungsberichten derer, die die Sucht aufgegeben hatten, derer, die »die Schritte befolgt« und »die Drogen besiegt« hatten, die Berichte derer, die es »geschafft« hatten. Laut vorgetragen nahm jede Geschichte eines genesenden Drogensüchtigen einen vertrauten Verlauf an: Da war der Lebensstil, der in einem selbst, in der Familie und im Freundeskreis Chaos und Verwüstung stiftete; da war die Erlösung, die ihm im besten Fall die Narcotics Anonymous brachten; und dazwischen lag ein dunkles und Angst einflößendes Tief – eine Demarkationslinie, die sich nur für einen kurzen Moment zwischen dem alten und dem neuen Leben abzeichnete, der absolute Tiefpunkt im Leben der Person.
Diese ehemaligen Süchtigen, die »genesen« waren, sprachen Ma nach den Treffen manchmal an. Sie wollten ihr helfen, und ich spürte, wie sie mich und Lisa benutzten, um Zugang zu Ma zu bekommen. Ein Mann ist mir besonders in Erinnerung geblieben, ein Weißer mit grünen Augen, unglaublich groß. Er ging in die Hocke, um auf gleicher Höhe mit mir zu sein, und fragte mich, ob ich Kekse mögen würde. Da ich gerade mehrere in der Hand hielt
und mir einen in den Mund gestopft hatte, war mir nicht klar, ob es lustig gemeint war oder ob er mich rügte. Ich starrte ihn dümmlich an. Er lächelte und stand auf, um mit Ma über Abstinenz zu reden. Sie rauchte Kette und vermied während seines Vortrags jeglichen Blickkontakt mit ihm. Während er auf sie einredete und vergeblich versuchte, an sie heranzukommen, schwankte Ma vor und zurück (eine Nebenwirkung ihrer Medikamente gegen die Schizophrenie). Ma war zu dem Zeitpunkt gerade wieder frisch aus der Psychiatrie des North Central Bronx entlassen worden, und ihre Abstinenz erreichte die vorhersehbare Schwelle. Letztendlich begleiteten wir sie nach dem Meeting in dieser Nacht noch zu einem Drogenverkaufsplatz. Aber für einen kurzen Augenblick war die Botschaft dieses Mannes so klar und deutlich, wie sie nur sein konnte für einen Menschen, der nicht bereit war zuzuhören.
»Wissen Sie, wie man ganz sicher sein kann, dass man den Tiefpunkt erreicht hat, Miss?«, fragte er. »Sie wissen, dass Sie unten angekommen sind, wenn Sie aufhören zu graben! Das hat mein NA-Mentor zu mir gesagt.« Sein Versuch, Blickkontakt zu ihr herzustellen, war ernst gemeint, aber seine Worte drangen einfach nicht zu ihr durch.
Später in der Nacht verkaufte Ma den Toaster und mein Fahrrad für einen Schuss.
Nach jahrelanger Erfahrung wusste ich, dass Ma in mehreren Versionen existierte, grob gesagt waren es im Ganzen fünf Persönlichkeiten. Da war die verrückte Ma, die zugeknallte-und-besoffene Ma, die nüchterne-und-nette Ma, die am-Schecktag-glückliche Ma und die freundliche, frisch-aus-dem-Krankenhaus-entlassene Ma. Letztere war vielleicht die umgänglichste Version, allerdings hatte sie nur eine Lebensdauer von geschätzten zwei Wochen.
Wieder zu Hause, am Anfang der Lebensphase
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