Als der Tag begann
durch unser Fenster und erhellte alte Wasserverfärbungen wie eine Schablone auf dem Glas. Danach folgte ein lauter Donnerknall, der draußen die Alarmanlagen einiger Autos auslöste.
»Wie groß sind sie?«, fragte ich nach und zog mir schützend ein Laken über meine Schultern.
»Gigantisch. Enorm hoch. So hoch wie unser Wohnhaus, fünf Stockwerke, manchmal sogar noch höher.« Ma hielt einen Arm über ihren Kopf gestreckt. Ihr Gesicht verspannte sich, als sie dem Gesagten Nachdruck verlieh. »Ich sage dir, Lizzy, so hoch. Die sind gigantisch. Sie verdunkeln den gesamten Himmel, bevor sie herunterbrechen. «
»Wow, hast du schon mal eine gesehen?« Ich angelte nach einem Zusammenhang dieser Information mit Mas Leben.
»Oh, nein, du liebe Güte, es gibt sie nur weit von hier entfernt. Aber ich hatte mal andauernd Albträume davon. Nachdem ich als Kind diese Nachrichtensendung über Tsunamis gesehen hatte, träumte ich immer, ich würde mit diesem gigantischen Ding im Nacken so schnell ich konnte schwimmen. Und ich schaffte es nie, rechtzeitig wegzukommen, die Welle hat mich jedes verdammte Mal erwischt.«
»Träumst du immer noch davon?«
»Hin und wieder. Ja, letzte Nacht. Ich glaube, es liegt am Regen, dass ich wieder daran denke.«
»Warum gehen die Menschen nicht weg, bevor sie kommt?«
Ma starrte wieder hinaus in die Gasse. »Das würden sie ja, wenn sie wüssten, wann sie damit rechnen müssen, aber das können sie nicht. Die Welle überrumpelt sie, und dann ist es fürs Abhauen zu spät. Ich geh jetzt mal schlafen, Schätzchen, ich bin todmüde.«
»Aber Ma, warte … Egal, wie schnell sie rennen?«
»Egal, wie schnell sie rennen, Lizzy. Sobald sie die Welle kommen sehen, ist es bereits zu spät, ihr zu entkommen.«
Ma und Daddy pflügten in nur wenigen Tagen durch Mas aufgesparten Sozialhilfescheck. Sie kauften für Lisa und mich Lebensmittel im Wert von dreißig Dollar ein, aber nach weniger als einer Woche war das Geld knapp, und wir mussten wieder sorgfältig auf die Größe unserer Essensportionen achten. An allen Tagen, an denen ich versuchte hatte, wieder im Met-Food zu arbeiten, waren die gesamten Packplätze an den Kassen besetzt gewesen. Also teilten Lisa und ich uns, was vom Essen noch übrig war. In der besagten Nacht schmierte ich mir aus meinen Vorräten Erdnussbutter-Marmeladen-Sandwichs, während ich über meinen Hausaufgaben für die Klasse von Mrs Bennings saß: die Anfertigung eines Dioramas, eines plastischen Schaubilds. Der Regen fiel lärmend unaufhörlich so dicht wie ein Vorhang und trieb immer wieder kalte Luft durch das kaputte Wohnzimmerfenster an meine Arme und Beine.
In der fünften Klasse hatten wir diesen Oktober Schweinchen Wilbur und seine Freunde zur Vorbereitung auf die Bücherausstellung im Herbst durchgenommen. Ich benutzte Bastelpapier aus dem Kunstraum, um vorsichtig Umrisse von Charlotte, Wilbur und Templeton auszuschneiden und in eine Schuhschachtel einzufügen. Ich wollte die Szene nachstellen, in der die Spinne Charlotte das Wort bescheiden in ihr Netz einwebt. Die drei besten Modelle aus jeder Klasse würden den ganzen Dezember in der Schullobby ausgestellt werden, wo jeder sie sehen konnte. Morgen früh würde Mrs Pinders, die Schulleiterin, als Allererstes die Gewinner aussuchen. Würde ich meine Figuren lebensecht hinbekommen, war ich mir ganz sicher, dass mein Diorama gute Chancen hatte.
Die ganze Nacht verbrachte ich mit den Feinarbeiten. Ich klebte lauter hölzerne Eisstiele zum Zaun der Scheune aneinander. Die beim Spitzen von Bleistiften herunterfallenden Kringel wurden zu
Heuballen. Immer wieder trat ich einen Schritt zurück, um die Fortschritte am Bild auf mich wirken zu lassen, zufrieden damit, wie gut alles voranging. Während ich konzentriert am Wohnzimmertisch arbeitete, stürzten Ma und Daddy hinter mir aus der Wohnung, um sich auf den Weg in die Kneipen oder zu ihren Drogeneinkäufen zu machen, und kamen wieder zurück. Anhand ihrer aggressiv klingenden Gespräche, die ich zwar nicht immer klar verstand, war eindeutig für mich zu erkennen, dass irgendwas nicht in Ordnung war. Nur was genau, das blieb im Unklaren. Mehr als ein Mal torkelte Ma in Tränen aufgelöst aus der Wohnung in Richtung Bars. Vom meinem Fenster aus beobachtete ich, wie sie sich im Regen, der so dicht war, dass er die University Avenue verschleierte, auflöste.
Gegen vier Uhr morgens schließlich bekam ich müde Arme, und die Augen fielen mir zu. Obwohl weder Ma
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