Als der Tag begann
schreckte aus meinem Nickerchen hoch und begriff, dass sie tatsächlich am Telefon – der Hörer war halb über den Tisch weggerollt – mit mir redete. Ich griff sofort danach.
»Ma?«
»Lizzy, dachte ich mir doch, dass du das bist, Schätzchen. Wir hatten wieder diesen beschissenen Kunsthandwerkskurs. Ich hab
dir was gemacht. Einen Becher. Er ist nicht so schön geworden, wie ich wollte, aber ich konnte das Brett nicht sehen.«
»Töpfern? Du kannst Becher machen?« Die Vorstellung beeindruckte mich; Ma wirkte dadurch ungewöhnlich kompetent. »Geht es dir besser, Ma?«
»Klar. Das heißt, ich nehm’s mal an. Na ja, um ehrlich zu sein, ist das hier schwer für mich. Ist ja schon eine Weile her, weißt du? Die sind hier wie die gottverdammte Gestapo, diese Krankenschwestern. Ich bekomme noch nicht mal von irgendjemandem eine Zigarette. Mir geht’s gerade nicht so richtig wahnsinnig gut, denk ich mal.«
Ma beschwerte sich darüber, dass die Betreuer ihren Zigarettenkonsum wegen »schlechten Benehmens«, Fluchens oder Zuspätkommens zur Gruppentherapie einschränkten.
»Ich komme mir vor wie ein verdammter Häftling«, sagte sie. »Die wissen einfach nicht, wie das ist, wenn man dringend was zu rauchen braucht und nichts bekommt. Die mussten ja nie ohne das klarkommen, stimmt’s?«
»Ich weiß, Ma.«
Der Umgang mit Mas Degradierung zu einer Patientin der Psychiatrie war für mich eine verzwickte Angelegenheit. Das Personal des North Central Bronx kannte Lisa und mich mittlerweile beim Namen; sie stellten uns Fragen zur Schule, gaben ihre Kommentare zu fehlenden Milchzähnen ab und erinnerten sich an unsere Geburtstage. Aber ich widerstand ihren Freundlichkeiten. Irgendetwas an ihrem Interesse an uns, da sie ja Ma gegenüber ein autoritäres Gebaren an den Tag legten und sie ganz offensichtlich darunter litt, bewirkte, dass ich mich wie eine Verräterin fühlte. Also tat ich so, als bemerkte ich nichts, wenn sie für Ma »Verhaltenspunkte« auf dem Schwarzen Brett notierten oder mit ihr in einem Ton redeten, den die meisten Leute anschlagen, um ihre Kinder zur Ordnung zu rufen. Ich drehte mich weg, statt hinzusehen, wie sie angewiesen wurde – durch einen Tritt auf ihren Fuß –, drei Meter hinter dem Personal zu warten, mit Plastiküberziehern an
den Schuhen und in verblichenen Pullovern aus dem Fundbüro, und zusehen musste, wie die Stationstüren auf- und zugesperrt wurden, um ihr irgendwohin Zugang zu gewähren. Es war mir unmöglich, diese Leute, die Ma in Schach hielten, ohne ihre Einschränkungen wenigstens zur Kenntnis zu nehmen, an mich heranzulassen; es gab keine unverfängliche Art, befürchtete ich, ihnen gegenüberzutreten, ohne Ma schlechtzumachen. Deshalb hielt ich mich während der Besuche abseits, blickte zu Boden und antwortete dem Personal im Flüsterton.
Eine Sache, die es leichter machte, den Druck auszuhalten, war das Beobachten anderer Patienten: den schwitzenden Chinesen, der sich alle Steine des Damespiels in Zeitlupe in die Hosentasche steckte, oder die alte Frau mit geschürzten Lippen, die auf dem »Laufsteg« durch die Stationshalle stolzierte, oder den Mann, der die Wand anglotzte, während ein stetiges Spuckerinnsal aus seinem Mund floss. Auf welchem Planeten auch immer diese Leute wohnten – bei Ma wusste ich immerhin, dass es ihr in nur einem Monat oder so durch die Medikamente zehnmal besser gehen würde. Ihre Krankheit kam in Schüben, nicht so wie bei diesen Leuten. Beim Beobachten der anderen Patienten zählte ich auf den Unterschied, den ich zwischen ihnen und Ma ausmachen konnte; er bestärkte mich darin, dass alles schlimmer sein könnte, dass Ma da wieder herauskommen würde.
»Ma, hör mal, wenn du wieder zu Hause bist, gehen wir zu McDonald’s.« Ich hatte nach dem Moment in unserer Unterhaltung gesucht, in dem ich ihr von meinem neuen Job erzählen konnte.
»Klar, Lizzy, kein Problem.«
»Nein, Ma, das war keine Frage. Ich habe gesagt, wir gehen zu McDonald’s, wenn du nach Hause kommst. Ich habe einen Job.«
»Was, mein Schatz? Tatsächlich? Weißt du, ich habe als Kind oft auf einer Farm gearbeitet, allerdings nur für eine kurze Zeit. Das gehörte zu den sechs Monaten meiner Unterbringung als Pflegekind. «
Sie war wieder gesund, in Sicherheit, das konnte ich an ihrer Stimme hören.
»Wir haben Kühe gemolken, es war wi-der-lich. Allerdings schmeckte alles frischer als das Zeug, das man im Laden kauft, verstehst du? Du hast ja keine Ahnung, wie alt
Weitere Kostenlose Bücher