Als der Tag begann
seit ich in das Auto gestiegen war, dass jemand mich ansah oder mit mir sprach.
»Es ist notwendig, dass du dich ausziehst«, sagte sie. Danach war es wieder still.
»Nackt?«, fragte ich.
»Ja, ich muss dich untersuchen. Zieh dich bitte aus.«
Das Letzte, was ich tun wollte, war, meine Kleider auszuziehen, aber was sollte ich denn machen? Was hätte ich auf ihre Anweisungen hin nicht noch alles gemacht? Also zog ich mich aus. Sie
blätterte durch einige Papiere aus der Akte, während ich meine Anziehsachen auf dem zweiten Stuhl ablegte. Ich stand leicht gekrümmt in dem eiskalten Büro vor ihr, rieb meine Arme und wartete auf weitere Instruktionen.
»Auch die Unterwäsche, alles.«
»Warum?«, fragte ich und zog schon meine Unterhose aus. »Wofür ist das gut?« Wenn nur jemand mit mir geredet hätte wie mit einem menschlichen Wesen und mit mir durchgegangen wäre, was hier vor sich ging, dann wäre das außerordentlich hilfreich gewesen und hätte das Ganze weniger furchterregend auf mich wirken lassen. Aber stattdessen sprach sie in einem monotonen offiziellen Tonfall mit mir, der mir verriet, dass ich für sie kein Mensch, sondern ein Objekt ihrer Arbeit war.
Sie antwortete nicht sofort auf meine Frage, blickte aber wieder von den Unterlagen auf und begann mit einem Vortrag, der sich für mich wie auswendig gelernt anhörte.
»Elizabeth, wir werden dich heute untersuchen, und ich muss dir ein paar Fragen stellen. Du musst nur ehrlich darauf antworten, sonst nichts. Schaffst du das?«
»Ja«, sagte ich, nackt vor ihr stehend, abgestoßen von dem Gefühl, ihren Blick auf meinem dürren Körper zu wissen.
Sie deutete mit der Spitze ihres Stiftes auf einen blauen Fleck auf meinem Schienbein. »Woher hast du das, Elizabeth?«
Mein Körper war übersät mit blauen Flecken. Ich hatte von Natur aus blasse Haut und bekam leicht blaue Flecke. Jedes Mal, wenn ich vom Spielen nach Hause kam, hatte ich irgendwo einen Bluterguss, woher sollte ich da wissen, woher dieser eine stammte?
»Äh … vielleicht vom Spielen draußen.«
Sie schrieb etwas auf. »Und der da, und dieser da?«, fuhr sie fort und deutete auf zwei weitere auf demselben Bein an ungefähr derselben Stelle.
Wie lautete die richtige Antwort? Was würde passieren, wenn ich sagte, dass ich es nicht wusste? Würden sie denken, dass Daddy mich schlug? Wenn ja, könnte ich dann nie wieder nach Hause zurück?
Um was ging es hier bloß? Die ganze Angelegenheit war so undurchsichtig für mich, und je mehr dieses Gefühl vorherrschte, desto vollständiger hatte diese Frau die Kontrolle über mich, und desto weniger traute ich ihr über den Weg. Warum kam niemand und sprach das Ganze mal mit mir durch?
»Äh … mein Fahrrad … Beim Absteigen bin ich mit dem Bein angestoßen.«
So ging es noch eine Weile lang weiter. Ich wurde gebeten, mich umzudrehen und meine Arme zu heben. Irgendwann durfte ich meine Kleider wieder anziehen und mich hinsetzen. Sie ging hinaus, ein Latino betrat den Raum und brachte mir etwas zu essen. Auch er redete nicht mit mir. Er nickte nur und stellte auf dem Tisch einen in Zellophan gehüllten Packen ab; darin befand sich ein schwer zu kauendes Brötchen mit einer dicken Scheibe Schinken und einer dicken Scheibe Käse. Er händigte mir noch eine Safttüte aus und verschwand so leise, wie er gekommen war. Irgendwann tauchte Mr Doumbia im Flur auf, und wir brachen wieder auf. Zurück im Auto, schlang ich meine Arme um meinen Oberkörper und starrte verwirrt und benommen aus dem Fenster, auf nichts Besonderes achtend.
St. Anne’s Residence war ein einfaches, aber abweisend aussehendes Ziegelgebäude an der Lower East Side Manhattans. Es sah aus wie eine Mischung aus einer öffentlichen Schule und einem Altersheim. Später würde ich von den anderen Mädchen in dem Erziehungsheim erfahren, dass St. Anne’s ein »Wohnheim mit Schwerpunkt Diagnostik« war – eine Einrichtung, in die Mädchen mit einer Vorgeschichte, Verhaltensproblemen wie Schuleschwänzen, psychischen Krankheiten, kriminellen Delikten und anderen Vorfällen, zur »Beurteilung« geschickt wurden, bevor man sie dann dauerhaft unterbrachte. Während dieses Beurteilungsprozesses waren Sitzungen mit allen möglichen Psycho-Fachleuten vorgesehen, und es gab das Gerücht, dass es mindestens drei Monate dauerte, bis man alle durchlaufen hatte.
Meine Zeit in diesem Heim – fast eine ganze Jahreszeit – kehrt
auch jetzt nur in bruchstückhaften Erinnerungsfetzen an
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