Als der Tag begann
in New York City geschickt worden, von einer Frau, die ihm schrieb, sie vermisse ihn und seinen »schlechten Geschmack« bei Gedichten. Sie wollte ihn auch wissen lassen, dass ihr gemeinsamer Freund Walter ihn auch vermisse und dass sie hoffe, er würde bald wieder nach San Francisco zurückkommen. Daddy mochte Gedichte? Das konnte ich mir nicht vorstellen. Mit seinen »Wahre-Verbrechen-Büchern« und seinen Rateshows schien er doch nur an Fakten interessiert zu sein, und zwar am liebsten an finsteren oder solchen ohne tieferen Sinn. Gedichte passten da nicht ins Bild.
Ich sammelte die Fotos auf, die aus dem Album herausgefallen waren. Eins zeigte ein Baby, ein kleines Mädchen in einem rosafarbenen Kleid. Erst dachte ich, das sei eine Fotografie von mir, aber ich hatte sie noch nie gesehen, und sie war schon ziemlich verblasst. Dann drehte ich sie um und fand auf der Rückseite den Namen Meredith geschrieben.
Mir wurde eng ums Herz. Ich starrte das Bild lange an und verglich Merediths Gesicht mit der verschwommenen Erinnerung an sie im Park, als Daddy Lisa und mich angewiesen hatte, auf unsere große Schwester zuzugehen. Ich starrte auf Merediths Babygesicht und verglich es mit dem von Daddy. Ich ließ ihre ganze Verletzlichkeit
als Kleinkind auf mich wirken und fragte mich dabei, wo sie jetzt wohl war und wie Daddy sie nur hatte verlassen können und warum er nie über sie sprach. Bei dem Gedanken, zu was er wohl sonst noch fähig war, überkam mich ein zutiefst ungutes Gefühl.
Unter den letzten paar Fotos fand ich eins, auf dem Peter und Walter, 4. Juli stand. Ich drehte es um und sah ein Bild von Daddy, auf dem er lächelte. Seine Augen waren so strahlend, als würden sie auch lächeln. Der andere Mann auf dem Bild, Walter, war gut aussehend, schlank und wirkte noch jünger als Daddy. Er hatte eine helle Haut, Sommersprossen und rote Haare. Auch er lächelte, und er hatte einen Arm um Daddys Schultern gelegt. Im Hintergrund erkannte ich lauter Leute, die Amerika-Fahnen in einem Park schwenkten, der nicht in New York City zu sein schien, sondern eher an einem Ort, den ich noch nie gesehen hatte. Es wirkte so, als wären alle bei einem großen Picknick.
Schließlich kam ich zum letzten Foto — ein Polaroid, ganz am Ende des Stapels, unter den Fotos verborgen. Zuerst verwirrte mich das Bild. Ich starrte es eine ganze Weile lang an, weil mein Gehirn sich aus dem, was ich da sah, keinen Reim machen konnte. Dann jedoch sickerte die Wirklichkeit langsam durch. Als Erstes kapierte ich, dass ich dabei war, mir ein Bild von zwei sich küssenden Männern anzusehen. Dann erkannte ich, dass der rothaarige Mann auf dem Foto Walter war. Walter, der Freund meines Vaters. Der auf der Postkarte erwähnte Walter. Der Walter aus den ungeöffnet zurückgeschickten Briefen. Walter küsste einen anderen Mann, und dieser Mann war Daddy.
Ohne nachzudenken, sprang ich auf, von einer plötzlichen Panik erfasst, und stopfte die Briefe, Postkarten und Fotos wieder in die Schachtel, schnell , als ob ich durch meine hektischen Bewegungen meine Entdeckung gleich wieder mit hineinpacken könnte. Ich verfrachtete die Schachtel ganz nach hinten in den Schrank, hängte Mas Morgenmantel wieder an seinen Platz zurück und rannte in mein Zimmer.
Auf meinem Bett, den Kopf unter meinen Kissen vergraben, überrollten mich Mas warnende Worte über Daddy. Ich erinnerte mich an die vielen Momente, in denen sie ihn beschuldigte, geheimniskrämerisch zu sein und sie nicht wirklich zu lieben. Ich dachte immer, ihre Krankheit hätte sie paranoid werden lassen. Ich hatte ihn in Schutz genommen und Mitleid mit ihm gehabt, weil er mit ihrer irrationalen Boshaftigkeit zurechtkommen musste. Habe ich das gerade wirklich gesehen? War das echt? Wusste Ma davon?
Ich heulte Rotz und Wasser in meine Kissen. Ich weinte mir mein ganzes Leid von der Seele, das Leid, von Ma und Lisa verlassen worden zu sein. Schluchzend ließ ich meinen zutiefst verunsichernden Gefühlen freie Bahn. Ich weinte, weil sich weit hinten in dem Schrank vergraben, den sich Ma und Daddy einst geteilt hatten, der Beweis dafür befand, dass ich meinen Vater nicht wirklich kannte. Traf er sich immer noch mit Walter? Traf er sich jetzt mit einem anderen Mann? Hatte er Ma jemals wirklich geliebt? Hatte Daddy Ma möglicherweise mit Aids angesteckt?
In den folgenden Monaten verbrachte ich viel Zeit hinter verschlossenen Türen in meinem Zimmer. Spätabends, wenn Daddy von seinen Drogeneinkäufen
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