Als der Tag begann
Gerüche, Bilder und Geräusche zu mir zurück. Ich war in dieser Phase meines Lebens eher Beobachtende als Mitwirkende. Und selbst wenn ich mich sehr anstrenge, fallen mir nur einzelne Szenen ein.
Ich sehe den Tag vor mir, als ich dort hingebracht wurde, die beiden männlichen Sozialarbeiter, die mich entschieden in ihre Mitte nahmen. Die Art, wie sie ihre mit Fotos versehenen Ausweise an das Fenster des Empfangsbüros drückten, damit wir per Summer eingelassen wurden. Das automatische Klicken beim Auf- und Zugehen der Türen, genau dasselbe Geräusch hatte ich auf Mas Psychiatriestation gehört. Das beklemmende Gefühl in der Magengrube, als ich mich fragte, ob mich diese Leute wohl für verrückt hielten. Wenn man mich in so eine Einrichtung brachte und niemand mit mir wie mit einem menschlichen Wesen redete – bedeutete das, dass mit mir etwas nicht stimmte? Es musste einfach etwas mit mir nicht stimmen.
Eine dicke, glatzköpfige, koboldartige Frau nickte meinen Begleitern zu, und sie gingen wieder zur Tür. Als diese sich mit einem Klicken öffnete, drangen die Geräusche der Stadt in den ansonsten lautlosen Eingangsflur; Geräusche, von Leuten gemacht, die ihre Freiheit genossen. In diesem Augenblick spürte ich ganz deutlich, wie sich mein sozialer Status verschoben hatte: Ich gehörte nicht mehr dazu.
Das hier war nicht in Ordnung. Ich sollte überhaupt nicht hier sein, und Daddy war viel zu schwach, um allein zurechtzukommen. Ich war mir sicher, das U-Bahn-Netz so gut zu kennen, um den Weg zurück zu ihm zu finden, wenn ich nur von diesen Leuten hier wegkäme. Aber als ich mich umsah, erkannte ich, dass Fluchtversuche vorhergesehen und deshalb Vorkehrungen getroffen worden waren. Jedes Fenster war mit Vorrichtungen in Form von groben Fliegengittern verbarrikadiert, und die waren eisenhart. Alles war so steril und blank, dass man sich noch nicht mal verstecken konnte.
»Alle nennen mich Tantchen«, sagte die Frau. »Ich hab hier das
Sagen. Du kommst in den zweiten Stock. Mach keinen Ärger, und es passiert dir nix … Hast du mich verstanden, Mädchen?« Mir schnürte es die Kehle zu. Ich nickte.
Im oberen Stockwerk spazierten schwermütig dreinblickende Mädchen unter Aufsicht auf den Gängen umher, von denen die Zimmer der Reihe nach abgingen, mal mit zwei, mal mit drei Betten. »Das hier ist dein Zimmer, mit Reina und Sasha. Respektlosigkeiten werden hier nicht geduldet! Licht aus um neun, Frühstück um sieben, und kein Schuleschwänzen. Kein Lärm. Wenn du noch was wissen willst, frag sie.« Sie deutete mit dem Kopf auf die Mädchen.
Reina war ein herber, dunkelhäutiger Typ, mit schmalem Gesicht und schlaksigem Körper, und ihr Kopf war bedeckt mit krausen Zöpfchen. Wie ich schon bald erfahren würde, verbrachte sie ihre ganze Zeit damit, über Mädchen zu reden, die »immer nur dumm rumlabern und das kriegen, was sie verdienen … Verstehste? « Sie machte ständig Pausen in Erwartung einer Bestätigung.
»Jupp«, war alles, was ich ihrem permanenten Gequassel je entgegenzusetzen hatte.
Sasha, meine zweite Mitbewohnerin, war extrem schweigsam, besonders vor Reina, und sie hatte auch allen Grund dazu. Wann immer Sasha zum Waschraum ging, lästerte Reina über sie los, wie »hässlich« oder »beschissen von sich selbst überzeugt« sie doch sei. »Ich, ich war ’n Model, bevor ich hier ankam, und meine Klamotten waren superheiß, bevor in dem Laden hier alles kaputt gemacht wurde, aber ich lass mich nicht unterkriegen, weil ich verdammt viel besser bin als ihr alle hier! Die soll nur so weitermachen, ich klatsch die Schlampe voll ab.«
Es stimmte, dass man in St. Anne’s keinen Stil haben konnte, weil alles, was wertvoll war, einem unvermeidlich gestohlen wurde und weil alle Kleidungsstücke zusammen in einer kochend heißen, entfärbenden Brühe gewaschen wurden. Aber Reina war kein Model, und Sasha schwieg eher aus strategischen als aus egoistischen Motiven.
Reina bedachte mich mit einem Blick, als müsse sie entscheiden, was sie mit mir tun sollte. »Ich mag dich, weißes Mädchen, wir könnten uns eng zusammentun, uns gegenseitig den Rücken freihalten, verstehste?«
»Klar«, antwortete ich ihr.
Als ich am ersten Abend am Tisch saß und mich einen einzigen Moment lang daran erfreute, eine warme Mahlzeit vor mir zu haben, breitete sich auf meinem Schoß urplötzlich ein heißer Schmerz aus und versengte mir den Bauch. Es brannte höllisch, und ich schrie vor Schmerzen auf. Die
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