Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Murray
Vom Netzwerk:
Beständigkeit«, pflegte Dr. Morales zwitschernd von sich zu geben, begleitet von einem Kopfnicken zu jeder einzelnen Silbe, dessen Winkel bestimmt wurde durch den Ernst unseres jeweiligen Themas – wobei es normalerweise um mein »Disziplin-Problem« ging. Manchmal allerdings nahm sie die Gelegenheit wahr, andere Dinge zu erforschen: »Stören dich deine Haare im Gesicht nicht?« und »Wenn du so schüchtern bleibst, wirst du niemals Freunde finden.«
    Ihr Gesichtsausdruck variierte in genau zwei Richtungen: Einmal legte sie teilnahmsvoll und mitfühlend ihre Stirn in Falten (dabei stützte sie ihre Wange mit einer Hand), das andere Mal setzte sie einen nachdenklichen Blick auf (wobei sie sich auf die Lippe biss und die Hände übereinanderlegte). Ich bettelte insgeheim immer um alles andere, nur nicht um den nachdenklichen
Blick, da ihm auf dem Fuß eine Grundsatzaussage folgte, die mich stets verärgerte: »Man muss sein Leben in die Hand nehmen, denn jeder ist für sich selbst verantwortlich.«
    Als wäre ich nicht schon fast mein ganzes Leben für mich selbst verantwortlich gewesen.
    Sie selbst war so weit entfernt von all den Dingen, die sie von sich gab, dass ich manchmal das Gefühl hatte, die ganze Sitzung fände vielleicht für Dr. Morales statt, als Forum für sie selbst, um die Sätze, die sie in ihrer Ausbildung gelernt hatte, praktisch anzuwenden. Das hatte zur Folge, dass ich die Hälfte meiner Zeit damit zubrachte, sie zu beruhigen, unerschütterlich zustimmend zu nicken und meinen inneren Bezug zu ihren tiefen Einblicken vorzutäuschen.
    »Ich möchte dir helfen, aber jeder weiß ja, dass man jemandem, der sich nicht helfen lassen will, nicht helfen kann.« Ihre Augenbrauen gingen steil in die Höhe; sie versuchte, mich aus einer langen Schweigephase herauszuholen.
    »Das verstehe ich«, wiederholte ich immer wieder.
    Ich übte mich in meinem alleraufmerksamsten Gesichtsausdruck, damit ich es nicht ertragen musste, dass sie sich noch mal wiederholte. So brachten Dr. Morales und ich die vierzig Minuten zu – wir »verstanden« uns gegenseitig, der Weiterentwicklung zuliebe. Ich verstand sie, weil ich dann meiner Rückkehr nach Hause näherkam. Wenn sie mein Rückfahrtschein zu meiner Familie war, würde ich ihr beweisen, dass ich es nicht verdient hatte, auch nur eine einzige weitere Minute in der St. Anne’s Residence zu verbringen.
    Also nutzte ich unsere gemeinsam verbrachte Zeit dazu, ein interessiertes Gesicht zu machen und endlos zu nicken, als ob mich ihre tiefen Einblicke berührten und weiterbrächten. Ja, ich fand wirklich, dass es an der Zeit war, mir Gedanken über meine Zukunft zu machen. Ja, jetzt, wo Sie es sagen, ich wollte wirklich eine gebildete junge Dame sein und mein Potenzial nutzen. Ja, Sie sind sehr kompetent in Ihrem Beruf, und ich ändere mich wirklich nur dank Ihnen, Dr. Morales.

    An einem Nachmittag gegen Ende der Woche fand ich dann heraus, was Reina damit gemeint hatte, »ihr den Rücken frei zu halten« ; als Tantchen wütend unsere Tür aufriss, mit Sasha im Schlepptau, die klatschnass war, vor sich hinschluchzte und blutunterlaufene Augen hatte.
    »Dass es bloß keine von euch wagt, Tantchen reinzulegen!« Ihre glänzenden Knopfaugen schossen zwischen mir und Reina hin und her. Mit ihrer Glatze und der nach oben gebogenen Nase sah sie aus wie eine Bulldogge, der man die Ohren kupiert hatte. »Wer von euch hat Bleichmittel in Sashas Shampooflasche getan? Und lasst Tantchen besser nicht selbst raten!« Reina behauptete steif und fest, sie sei es nicht gewesen, und zwar so überzeugend, dass sogar ich einen Moment lang an mir zweifelte.
    »Das war Elizabeth! Ich hab ihr gesagt, so was machen wir hier nicht, aber Tantchen, sie hört ja nicht zu.« Mit einem verzweifelten Kopfschütteln fügte sie noch hinzu: »Sie hat mir gedroht, ich soll die Klappe halten, wenn ich nicht auch noch Probleme haben will, aber ich hab verdammt noch mal nix damit zu tun! Tantchen, Hand aufs Herz, ich schwör’s! Ich war das nicht!« Davon ließ sich Tantchen überzeugen.
    »Ich würde niem…«, setzte ich an.
    »Mir ist es egal, wo du herkommst, aber auf gar keinen Fall geht das hier so weiter – mit so was kommst du nicht durch, wenn Tantchen das Sagen hat. Du kommst jetzt sofort mit!« Ich folgte ihrem glänzenden Glatzkopf aus dem Zimmer, vorbei an Reinas selbstzufriedenem Lächeln.
    Ich landete im »Stilleraum«, einer ein Meter achtzig mal drei Meter großen Kammer mit schlechten

Weitere Kostenlose Bücher