Als der Tag begann
rötliche Suppe war überall durchgesickert, und nur ein paar Karotten und Reiskörner blieben auf meinem T-Shirt und meiner Jeans hängen. Eine Gruppe Mädchen verriet sich, wie sie alle zusammen, sich vor Lachen schüttelnd, den Rückzug antraten. Aber sie waren nicht die Einzigen; eins der Mädchen an meinem Tisch flüsterte »weiße Schlampe« in meine Richtung.
Am Ende dieses Tages stellte ich mich in einer langen Schlange von Mädchen an, die darauf warteten, sich vor weißen sterilen Waschbecken unter Neonlampen die Zähne zu putzen. Auch hier waren die Fenster gesichert. Die dominanten Mädchen erkannte ich bereits an der Art, wie sie sich beim Waschen ein bisschen länger Zeit ließen, ihre Bewegungen übertrieben langsam ausführten und gemütlich ihre Haare richteten, während wir anderen darauf warteten, an die Reihe zu kommen. Alle übrigen spritzten sich kurz ein bisschen Wasser ins Gesicht und schrubbten mechanisch ein paarmal mit der Zahnbürste im Mund herum. Die Gerüche nach Zahnpasta, Shampoo und Tone-Seife waren am stärksten, die buttergelben Seifenstücke wurden in der Duschschlange an uns verteilt. Eine nach der anderen, die Duschtücher in der Hand, warteten wir barfuß auf den Fliesen darauf, dass die Abendaufsicht unsere Namen von einem Klemmbrett las und sie aufrief, wobei sie mit der Stoppuhr die Minuten zählte, die wir duschen durften. Der ausgeprägte Kakaobutterduft der
Tone-Seifen stieg hinter den Plastikvorhängen in den Raum zwischen all den Duschkabinen auf und verdichtete den nebeligen Dampf.
Niemand trödelte herum, weil Tantchens Allgegenwärtigkeit einem das Gefühl gab, sie stünde direkt hinter dir, bereit, dich jederzeit durch eine ausgestoßene Drohung in nächster Nähe anzutreiben. Der Hauptflur lag völlig verlassen da, und Lichtkegel strahlten aus jeder offenen Zimmertür heraus.
»Raguìa, Lauryn, Elizabeth, das hier ist nicht euer privates Badezimmer. Also beeilt euch ein bisschen, bevor Tantchen die Geduld verliert! Ihr seid doch keine Schnecken.« Es war das erste Mal für mich, dass Waschen und Zubettgehen beaufsichtigt und durchgesetzt wurden; es fühlte sich seltsam an, zu merken, dass Leute sich jeden Tag duschten und dass man zu diesen Leuten dazugehörte. Aber ich liebte das Gefühl, sauber zu sein und zu spüren, wie die gewaschenen Kleidungsstücke über meine Haut strichen. Tantchen sorgte dafür, dass alle Lichter um Punkt neun Uhr gelöscht waren; um ganz sicherzugehen, schob ein Angestellter die ganze Nacht lang auf dem Flur Wache.
Es stellte sich heraus, dass, neben der Zwangsunterbringung und der reglementierten halben Stunde pro Woche zum Telefonieren und dem minütlich verplanten Tagesablauf, das Erklingen von Tantchens donnergrollender Stimme von morgens bis abends, gepaart mit dem Geklapper der Schlüssel, die sie am Taillengürtel ihres ununterbrochen getragenen Hauskleids befestigt hatte, am schwierigsten zu ertragen war. Jeden Morgen wurden wir zwölf Mädchen nicht später als sechs Uhr dreißig, sonst setzt’s was , vom Lärm aufgerissener Türen, vom flackernden Neonlicht und dazu natürlich noch Tantchens Geschrei geweckt.
»Ihr steht jetzt mal besser auf, Mädels ! Raus, raus, raauuus!«
Gelegentlich erklang das Gegrummel eines Mädchens (meistens ein Neuankömmling), das sich weigerte, ihr Bett zu verlassen, und daraufhin, logischerweise schreiend und um sich schlagend, aus selbigem gezerrt wurde.
»Stell Tantchen gar nicht erst auf die Probe, denn sie macht keine Witze. Versuch’s noch mal, und du wirst sehen, wozu Tantchen in der Lage ist.«
»Warum beginnst du nicht einfach damit, wie es sich für dich anfühlt, hier zu sein?«
»Wie aufgeschmissen«, erwiderte ich und ignorierte die Enttäuschung auf ihrem Gesicht, während die Zeit verging und ich stumm blieb. Der große Zeiger der Werbeuhr zog geduldig weiter, und anstelle der zwölf befand sich eine leuchtend grün-weiße Prozac-Pille.
Dr. Eva Morales trank ihren Kaffee aus einem Becher mit Cornell-University-Aufdruck, der in ihrem kleinen, fensterlosen Büro nie weiter reiste als von ihrem Mund zurück zu dem Untersetzer, ein kleines Platzdeckchen in knalligem Pink, derselben Farbe wie ihr Lippenstift. Unsere Sitzungen, genau wie die Sitzungen aller übrigen Mädchen, dauerten vierzig Minuten, dreimal die Woche, und das während meines gesamten Aufenthalts in der St. Anne’s Residence.
»Beständigkeit bringt Entwicklung, und Entwicklung ist gekennzeichnet durch
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