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Als die erste Atombombe fiel

Als die erste Atombombe fiel

Titel: Als die erste Atombombe fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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leuchtend rotes Blut rann. Jedes Mal, wenn sie tief Luft holte und ausatmete, hörte ich einen Seufzer aus der Wunde kommen. Als sie sagte, sie hätte gern einen Schluck Wasser, sah ich durch die Wunde ihre weißen Zähne schimmern. Sie hatte sich in der Glasveranda aufgehalten, und fünfzig, sechzig oder wahrscheinlich über hundert Glasscherben steckten überall in ihrem Körper, und aus den Schnittwunden strömte Blut. Auf dem einen Knöchel war kein Fleisch mehr. Als ich diese Gestalt sah, in die meine Schwester verwandelt worden war, konnte ich mir einen Moment lang nicht einmal vorstellen, dass sie es wirklich war. Ich hatte sogar Angst, ihr nahe zu kommen.
    Mein Vater stöhnte laut. »Schnell, holt mich raus!«, schrie er. Mein Bruder ging auf die Stimme zu und fragte: »Wo bist du, Vater?«
    »Du stehst auf mir! Oh, die Schmerzen!«
    Mein Bruder sprang erschrocken zurück. Wir konnten Vater von oben nicht sehen. Die Stuckmauer hatte ihn völlig unter sich begraben und sein Kopf war in der Ecke der Türschwelle eingeklemmt. Die Gewalt der Druckwelle hatte seinen Kopf so fest eingeklemmt, dass es schwierig war, ihn überhaupt zu bewegen. Als mein Bruder mit aller Kraft zog, schrie mein Vater auf vor Schmerzen.
    Während all dies geschah, hörte ich meine Mutter nach mir rufen: »Eiko-chan! Eiko-chan! Hilfe! Hilfe!«
    Bis heute weiß ich nicht, was ich die ganze Zeit eigentlich gemacht habe. Ich rannte dorthin, von wo ich die Stimme meiner Mutter gehört hatte, aber sie war nirgends zu sehen. Ihre Stimme schien vor Schmerz, Schreck und Entsetzen zu zittern.
    »Mutter, wo bist du?«
    Ich näherte mich ihrer Stimme. Unter dem eingestürzten Dach klopfte Mutter gegen etwas, das sich wie Blech anhörte. Aber ihre Stimme wurde allmählich immer schwächer. Ich hatte überhaupt keine Kraft – wie sollte ich die schweren Wände heben, die Träger, das Glas? Unter Tränen rief ich, ohne nachzudenken: »Mama, ich kann dich nicht rausholen. Da ist das schwere Dach und die Balken und das Obergeschoss …«
    Mutters Stimme erstarb. Ich dachte nicht einmal, dass ich besonders traurig war oder auch nur, dass ich sie rausholen wollte. Ich stand nur wie betäubt da und blickte durch das Dach nach unten. Ich hörte auch das Klopfen nicht mehr.
    »Eiko-chan!«, rief mein Bruder.
    Er hatte eine tiefe, etwa zehn Zentimeter lange Schnittwunde im Bauch, als ob er gerade am Blinddarm operiert worden wäre. Bei der kleinsten Anstrengung, die er machte, strömte Blut aus der Wunde. Mit den sichtbaren Eingeweiden und dem hervorquellenden, leuchtend roten Blut sah er gar nicht mehr wie mein Bruder aus. Meine Schwester sagte, ihr sei schlecht, und ließ sich hinfallen. In dem Augenblick kam mein Vater unter den Trümmern hervorgekrochen. Während er uns erklärte, wie man Mutter herausholen könne, drängte mein Bruder zur Flucht. »Schnell, raus hier«, sagte er, »oder wir werden alle bei lebendigem Leib verbrennen. Beeilt euch!«
    Als ich mich umsah, sah ich, dass die Flammenwellen höher geworden waren und drohend auf uns zukamen. Wir versuchten, nach links zu fliehen, aber die Flammen prasselten immer höher und machten ein schreckliches Geräusch, wie explodierendes Schießpulver. Rasch wandten wir uns zur rechten Seite, aber auch dort schien das Feuer uns verschlingen zu wollen. Die Flammen sahen seltsam aus, wie sie kerzengerade nach oben ragten. Allmählich kamen sie immer näher und ließen uns immer weniger Platz. Wir vier duckten uns vor den Flammen weg. Wir dachten, dass wir jetzt bei lebendigem Leib verbrennen würden.
    Abgebrochen

Die Einzige in meiner Klasse, die überlebte
    Setsuko Sakamoto
Studentin, Hiroshima-Mädchen-College
    Der Hijiyama-Hügel ist noch immer ziemlich kahl, aber hier und da sieht man ein Stückchen Gras, was die Kraft der Natur beweist. Ich bin immer kränklich gewesen seit dem Tag, an dem die Atombombe abgeworfen wurde, und jedes Mal, wenn ich die sandfarbenen Quonset-Gebäude auf dem Hügel sehe, kommen mir wieder die fürchterlichen Bilder vom Tag des Bombenabwurfs in den Sinn und mir läuft es kalt über den Rücken. Ich bin die Einzige in meiner Klasse, die überlebt hat.
    Ich denke an den 6. August 1945. Es war der Tag, an dem wir nach Zakoba-cho, einen Kilometer südöstlich von der Abwurfstelle, geschickt wurden, um ein evakuiertes Gebiet zu räumen. Es war schrecklich heiß dort und alle schwitzten, aber wir gingen voll Eifer an die Arbeit und sangen beim Dachziegelschleppen, um im

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