Als die erste Atombombe fiel
Aber alle drei lehnten mich wegen meiner schlechten Gesundheit ab. Eine davon war jene Firma, für die ich als Oberschüler gearbeitet hatte, als die Atombombe fiel. Als ich nicht einmal diese Arbeit bekam, gab ich die Hoffnung auf. Einige Monate später habe ich mir die Pulsadern aufgeschnitten und versucht, Selbstmord zu begehen. Als einziger Job blieb mir schließlich, Bonbons im Laden meines Vaters herzustellen. Seitdem habe ich meinen Beruf siebenmal gewechselt, weil ich wegen Krankheit fehlte und die Firmen mich entließen. Zum Glück habe ich eine Frau gefunden, die bereit war, mich zu heiraten.
Aber viele Atombombenopfer müssen auch auf dieses Glück verzichten, weil sie vielleicht geschädigte Kinder zur Welt bringen.«
Die Furcht vor solchen Missbildungen ist unter den Atombombenopfern groß, auch wenn sie nur selten darüber sprechen. Die Angst um das Schicksal ihrer Nachgeborenen müssen sie zumeist allein bewältigen, auch die Ärzte können ihnen da nicht helfen. Und unbegründet sind ihre Befürchtungen keineswegs, denn die Serie der Hiobsbotschaften während der Nachkriegsjahre reicht weit. So blieb zum Beispiel der Zusammenhang zwischen radioaktiver Strahlung und den in Hiroshima verstärkt auftretenden Fällen von Mikrozephalitis mehr als zwei Jahrzehnte lang unentdeckt. Mikrozephalie bedeutet kleiner Kopf, wobei nicht nur der Schädel anormal verkleinert ist, sondern auch das Gehirn nicht über das Stadium eines Kleinkindes hinauswächst. Die Eltern haben sich zu einer Interessengemeinschaft zusammengeschlossen und eine staatliche Entschädigung durchgesetzt. Aber das Schicksal dieser Opfer bleibt ungewiss, weil sie ihr Leben lang auf fremde Hilfe angewiesen sind.
Hiroshima, das bedeutet auch heute noch für die meisten der Betroffenen und deren Nachkommen Ungewiss-heit, Angst und Fragen an die Zukunft, die oft niemand beantworten kann. Die Antwort auf eine Frage, die ich mir bei meinem Besuch in Hiroshima oft gestellt habe, finde ich nach meiner Rückkehr in einer deutschen Tageszeitung, genauer in der Frankfurter Rundschau vom 22. April 1982; die Frage nämlich, weshalb die Erfahrungen mit der Atombombe von Hiroshima und Nagasaki praktisch auf den kleinen Kreis der Betroffenen begrenzt blieben, weshalb die Lehren dieses Atomangriffs immer wieder aus dem Bewusstsein verdrängt werden. In der Zeitung ist eine Rede des Gießener Professors Horst Eberhard Richter abgedruckt. Richter hat sich in einem Vortrag über die Psychologische Wirkung der Atomkriegsdrohung mit dem Thema der Verdrängung und Verleugnung auseinander gesetzt. Er zitierte zunächst den Philosophen Karl Jaspers mit dem Satz: »Wie der Kranke sein Karzinom vergisst, der Gesunde, dass er sterben wird, der Bankrotteur, dass kein Ausweg mehr ist, verhalten wir uns so auch gegenüber der Atombombe …« Als Möglichkeiten, diese Bewusstseinsbarrieren zu überwinden, empfiehlt Richter dann: »… gegen die Tendenz zur Verleugnung ist eine abstrakte Ermahnung nicht wirksam genug. Ein nützlicheres Mittel besteht darin, die Erscheinungsformen und Wirkungen eines Atomkrieges immer wieder anschaulich vorzuführen. Filme über Hiroshima sind geeignet, die Sperre der Verleugnung zu durchbrechen. Auch Vorträge, in denen den Zuhörern die Wirkungen von Bomben klar gemacht werden, die über ihrem eigenen Wohnort gezündet würden, zwingen die Menschen dazu, sich über ihre Situation klar zu werden.«
Die Berichte der »Kinder aus Hiroshima«, ihre Erfahrungen und Leiden können ebenfalls der Verdrängung entgegenwirken. Denn vielleicht ist es noch nicht zu spät dafür, die notwendigen Lehren aus dem Hiroshima von 1945 zu ziehen, damit es keine weiteren Hiroshimas gibt.
15 bis 1991.
16 Diese Geschichte wurde in einer freien Erzählung von Karl Bruckner in dem Buch Sadako will leben dargestellt.
Literaturhinweise
Anders , Günther: Die atomare Bedrohung. München 1981
Ders.: Hiroshima ist überall. München 1982
Braw , Monica: The Atomic Bomb Suppressed. American Censorship in Occupied Japan. New York 1991
Coulmas , Florian: Hiroshima – Geschichte und Nachgeschichte. München 2005
Fujiwara , Kiichi: Den Krieg erinnern, Hiroshima, der Holocaust und die Gegenwart (jap.). Tokyo 2001
Hoffmann , Hubertus: Atomkrieg – Atomfrieden. München 1980
Ibuse , Masuyi: Black rain. Tokio, New York and San Francisco 1969
Jenaga , Saburo: The Pacific War. New York 1978
Jungk , Robert (Hg.): Off limits für das Gewissen. Der Briefwechsel
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