Als die erste Atombombe fiel
Ende.
Am nächsten Tag sehe ich mir die Stadt näher an. Die ersten Eindrücke überraschen. Baumbestandene Alleen, Grünflächen zwischen den Häusern, Straßen mit breiten Bürgersteigen – Hiroshima mit seinen über 800000 Einwohnern hebt sich wohltuend von anderen japanischen Großstädten ab, von denen die meisten total verbaut und zersiedelt sind und am Verkehr, am Lärm und an den Abgasen zu ersticken drohen.
Nach dem Krieg wurde Hiroshima mit großer Umsicht wieder aufgebaut und entwickelte sich zu einem Zentrum der Schwer- und der petrochemischen Industrie. Beides ist vor allem ein Verdienst des berühmten Nachkriegsbürgermeisters Shinzo Hamai, der – selber ein Überlebender der Atombombe – nach 1945 den Fleiß und Überlebenswillen der Bewohner mobilisierte und alle Kräfte auf den Wiederaufbau konzentrierte. Die Stadt, die vor dem Krieg als Stützpunkt der Kaiserlichen Marine einen Namen hatte und wegen ihrer schönen Weidenbäume bekannt war, ist heute größer und pulsierender als je zuvor.
Beim Gang durch die Straßen versuche ich mir zu vergegenwärtigen, dass kein Baum, kein Strauch, kein Gebäude älter als 37 Jahre ist, aber die Vorstellung fällt schwer. Hiroshima – ein sichtbarer Beweis dafür, dass die Atombombe letztlich doch nicht so verheerend wirkt, wie immer wieder behauptet worden ist, dass ein Leben »danach« trotz der vielen Opfer möglich ist? Die am 6. August abgeworfene Atombombe war im Vergleich zu dem heute zur Verfügung stehenden Nuklearpotenzial ein kleiner Sprengsatz. Die damals hauptsächlich freigesetzten Gammastrahlen besaßen nach Auskunft von Professor Yokoro, Leiter des Strahlenforschungsinstituts an der Universität Hiroshima, zwar eine hohe Zerstörungskraft, aber sie verflüchtigten sich schnell. Schon fünf oder sechs Tage nach der Detonation sei diese Strahlung vorüber gewesen.
(Abb. 19) Hiroshima – Panorama einer modernen Stadt. Die Fassade verrät nichts mehr von den entsetzlichen Szenen, die sich an der Böschung des Ohta und im Fluss selbst abspielten.
Nach dem ersten Rundgang durch die Stadt überquere ich den Ohta-Fluss, um zum Friedenspark zu gelangen. Auf der Brücke bleibe ich eine Weile stehen. Das graubraune Wasser des Ohta verrät nichts mehr von den entsetzlichen Szenen, die sich hier am 6. August 1945 und an den Tagen danach abgespielt haben. Auf dem Fluss dümpeln ein paar Boote. Größere Schiffe sind nicht zu sehen. Schulkinder haben, wie ich später erfahre, vor kurzem die Böschung nach Steinbrocken abgesucht, die noch von der Explosion herrühren.
Ein Blick auf das Panorama lässt erkennen, weshalb die Amerikaner gerade Hiroshima für den Atomangriff ausgewählt haben. Die geografische Lage ist der Stadt zum Verhängnis geworden; sie liegt im Mündungsdelta des Ohta-Flusses und wird von sechs Flussarmen durchzogen. Eine Bergkette begrenzt das städtische Areal zum Meer hin: Hiroshima liegt wie auf einem Präsentierteller.
Der Friedenspark strahlt eine merkwürdige, unwirkliche Ruhe aus; sie wird nur gelegentlich von den Schulkindern durchbrochen, die an diesem Vormittag die Gedächtnisstätten aufsuchen, vor allem den Zenotaph, jene leere Grabstätte, die die Rolle mit den Namen von 200000 Atomtoten enthält. Das Ehrenmal der Stadt Hiroshima wurde von dem berühmten Architekten Kenzo Tange entworfen und am 6. August 1952 eingeweiht. Der Sarkophag, in dem die Rolle mit dem Verzeichnis der Toten aufbewahrt wird, trägt die Inschrift: »Ruhet in Frieden, denn wir werden die Fehler nicht wiederholen.« Der Zenotaph hat die Form eines Betonbogens, durch den man auf den so genannten Atomdom blickt, die ausgebrannte Ruine der ehemaligen Industrie- und Handelskammer von Hiroshima. Der Atomdom markiert zugleich das Epizentrum der Explosion, die Stelle also, über der die Atombombe gezündet wurde. Die ausgeglühte Fassade wurde an mehreren Stellen ausgebessert, damit sie nicht ganz einstürzte. Die Stahlkonstruktion hat Rost angesetzt. Die von der Hitze verbogenen Eisenträger ragen wie japanische Schriftzeichen in die Luft, als seien sie für ihre makabre Botschaft eigens geformt worden.
Ich durchquere den Park einmal in der Länge. Die zur Erinnerung an das schreckliche Geschehen aufgestellten Plastiken und Statuen sind über und über mit bunten Girlanden aus gefalteten Papierkranichen behangen. Der Kranich wird in Japan als heiliger Vogel verehrt. Er erinnert mich an die Geschichte des Mädchens Sadako, das die Atombombe
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