Als die schwarzen Feen kamen
spüren. Ein Schauer rieselte durch sie hindurch, der nichts mit der Angst vor ihrer Reise in die Schatten zu tun hatte. Wie von selbst legten sich ihre Hände in seinen Nacken und strichen über die weiche Haut und die feinen Locken an seinem Haaransatz.
» Du schaffst es«, murmelte er. » Das weiß ich. Denk immer daran, dass du unbedingt zurückkommen musst. Zu mir.«
Dann ließ er langsam die Hände sinken. Lange Zeit sah Gabriel sie einfach nur an. Marie konnte sehen, dass er gern noch etwas gesagt hätte, es sich aber verkniff.
» Also, bis später«, sagte er nur, und ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht, das so angestrengt war, dass es fast gequält wirkte. » Viel… Glück.«
Marie lächelte zurück, aber sie wusste, dass ihr Lächeln nicht weniger kläglich geriet als seins. » Danke.«
Einen endlos langen Moment hingen ihre Blicke aneinander fest, während Marie sich bemühte, die Furcht zurückzudrängen. Es musste sein, dachte sie und klammerte sich mit aller Kraft an diesen Gedanken. Dies war ihre letzte Chance, all die Fehler wiedergutzumachen, die sie in den vergangenen Jahren begangen hatte, ohne sich dessen bewusst zu sein. Dieses eine Mal in ihrem Leben konnte sie wirklich etwas richtig machen, dieses eine Mal musste sie mutig sein– und war es nicht das, was Mut eigentlich bedeutete? Etwas zu tun, weil es das Richtige war, obwohl man Angst davor hatte?
Marie kramte in ihrer Tasche und förderte das Fläschchen zutage. Sie schluckte drei Tropfen, dann schloss sie mit einem tiefen Atemzug die Augen und legte sich in die Polster zurück. Der Sog ergriff sie, und obwohl sie darauf gefasst gewesen war, presste ihr der Schreck den Atem aus den Lungen, als sie den Halt verlor. Ihre Finger schlossen sich krampfartig, ihr Körper zuckte und versteifte sich, sie japste entsetzt nach Luft. Ihr Herz hämmerte wie rasend, und für einen Moment wollte sie gegen den Strom kämpfen, der sie mit sich riss. Ein schwacher Lichtschein flackerte in der Dunkelheit, und ein scharfer Windstoß schien mitten durch sie hindurchzufahren, als das Tor sich öffnete. Weit entfernt sah sie die Obsidianstadt in der Schwärze schimmern. Eine seltsame Ruhe breitete sich in Marie aus, und sie zwang sich, ihre Finger zu lockern, die sich in die Polster des Sofas krallten. Sie hatte sich entschieden. Sie würde jetzt nicht feige sein. Sie würde diesen Weg gehen, egal was dort drüben auf sie wartete. Ein letztes Mal rang sie nach Atem– dann ließ sie die Realität endgültig los und erlaubte dem Nebel, sie davonzutragen. Flüchtig spürte sie noch, wie eine Hand sich fest um ihre schloss, bevor auch dieses Gefühl verblasste. Die Sofakissen unter ihr verschwanden. Kühle Feuchtigkeit strich an ihr vorbei. Eine Krähe schrie. Der Boden unter ihr war kalt und hart.
Und als sie die Augen wieder öffnete, war Gabriels Wohnung fort. Sie war auf der anderen Seite.
Interludium: Freund und Feind
Zitternd kniete Lea auf dem Teppich vor ihrem Frisiertisch und starrte auf ihre blutigen Hände zwischen den Spiegelscherben. Ihr ganzer Körper schüttelte sich, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. Sie war zu weit gegangen. Ihre Wut und ihre Angst hatten sie einfach mitgerissen. Und sie war völlig machtlos dagegen gewesen. Marie. Das Mädchen aus der anderen Welt. Atemloses Lachen brach in abgehackten Stößen aus Leas Kehle, ein Lachen, das nicht mehr war als eine Flucht vor dem Entsetzen, das sie zu lähmen drohte.
Das war Marie? Ihr Spiegelbild?
Das Bild der Weberin stand Lea vor Augen, als sie ihr den Trank der Feen gebracht hatte. Sie hatte die Hände nach Lea ausgestreckt und sie bei jenem Namen genannt. Marie. Lea hatte es als eine Nebenwirkung des Tranks abgetan und nicht weiter darüber nachgedacht. Jetzt aber erinnerte sie sich nur zu gut an das Gefühl der Beklemmung, das sie in diesem Moment überkommen hatte. Sie hatte es instinktiv begriffen, sie hatte gewusst, dass es auf der anderen Seite eine echte Marie gab. Und dass die Weberin sie, Lea, für eben diese Marie hielt, nachdem sie die Erinnerungen getrunken hatte, die die Feen von der anderen Seite brachten, das hätte ihr zu denken geben müssen. Aber sie hatte es ignoriert, hatte es nicht wahrhaben wollen. Erst jetzt, wo sie es mit eigenen Augen gesehen hatte, ließ es sich nicht mehr leugnen. Sie hatte ein zweites Ich auf der anderen Seite. Ein Ich, das frei war, in einer lebendigen Welt voller Menschen und Leben. Und die glücklichen Erinnerungen, die
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