Als die schwarzen Feen kamen
Es war noch früh, gerade erst elf Uhr– noch längst nicht Mittagspause. Sie konnte ihn jetzt noch nicht erreichen. Am besten, sie ging erst einmal nach Hause. Marie horchte in sich hinein und bemerkte verwundert, dass die Angst und der Widerwillen vor ihrem Zuhause und Karins Anblick verschwunden waren. Auch von den Schatten und wispernden Stimmen, die sie am Morgen zur Verzweiflung getrieben hatten, war nur noch eine unangenehme Erinnerung übrig. An ihre Stelle war eine leise köchelnde Wut getreten auf die Feen, die an all dem schuld waren. Aber Marie würde so nicht länger mit sich umspringen lassen. Dies war ihr Zuhause– und ihre Mutter. Mit festen Schritten machte sie sich auf den Weg zur S-Bahn. Sie würde sich ihr Leben nicht einfach wegnehmen lassen, und erst recht würde sie nicht länger zulassen, dass diese geflügelten Biester Karin weiterquälten. Sie würde herausfinden, wie sie sie wieder in ihre Welt einsperren konnte, sie würde kämpfen, bis sie gewonnen hatte.
Dazu war sie nun fest entschlossen.
Dreizehntes Kapitel: Durchbruch
Die Stille in der Wohnung war Marie inzwischen beinahe vertraut. Es war, als ob Karin nicht zu Hause wäre, und gleichzeitig ganz anders. Es lag eine Bedrohung in dieser Stille, die selbst das ewig stoische Ticken der Küchenuhr nicht zerschlagen konnte. Und auch ohne ins Schlafzimmer zu gehen, wusste Marie, dass ihre Mutter das Bett nicht verlassen hatte. Nicht einmal, um zur Toilette zu gehen. Ein schwacher, aber stechender Geruch nach Urin drang in den Flur und schnürte Marie die Kehle zu. Kurz blieb sie vor der Tür zum Schlafzimmer stehen. Sie fühlte sich nun doch wieder ein wenig zittrig, ein Nachhall der Panik, die sie am Morgen empfunden hatte. Was, wenn der Zustand ihrer Mutter sich noch weiter verschlimmert hatte? Was sollte sie dann machen?
Ruhig bleiben, dachte Marie. Sie hatte sich doch vorgenommen zu kämpfen– und das würde sie auch! Sie war kein Angsthase! Mit angehaltenem Atem stieß sie die Tür ganz auf und marschierte mit starrem Blick am Bett vorbei zum Fenster, um es weit aufzureißen. Sekundenlang blieb sie dort stehen und sog in tiefen Zügen die kalte Winterluft ein. Dunkle Wolken jagten weit über ihr durch den Himmel. Es würde bald wieder schneien. Marie schloss die Augen und versuchte, sich innerlich auf das einzurichten, was ihr jetzt bevorstand. Das Wichtigste würde sein, einen klaren Kopf zu bewahren und zumindest eine Art Plan zu haben. Sie musste ihre Mutter irgendwie aus diesem eingenässten Bett holen, sie musste etwas essen und vor allem etwas trinken, und… Marie atmete tief durch. Eins nach dem anderen, erinnerte sie sich. Ruhig bleiben. Sie ballte die Fäuste und konzentrierte sich auf den Druck der Fingernägel in ihren Handflächen, bis das Zittern in ihrem Inneren ein wenig nachließ und sie glaubte, für den Anblick gewappnet zu sein. Dann drehte sie sich um.
Ihre Mutter lag noch genau so da, wie sie sie am Morgen zurückgelassen hatte. Und obwohl das Bild im Grunde nichts von seinem Schrecken verloren hatte, stellte Marie erleichtert fest, dass es sie nicht mehr so haltlos verstörte wie noch Stunden zuvor. Es löste keine Panik mehr in ihr aus. Stattdessen fühlte sie dumpfen, zornigen Schmerz in sich aufsteigen. Niemand hatte das Recht dazu, Karin so etwas anzutun! Niemand! Und schon gar keine hässlichen kleinen Flügelviecher! Marie knirschte mit den Zähnen. Dann ging sie mit entschlossenen Schritten zum Bett hinüber. » Komm, Mama. Wir gehen uns waschen.« Sie richtete den schlaffen Oberkörper ihrer Mutter auf und zog ihren Arm über ihre Schulter.
Zu ihrer Überraschung ließ Karin sich widerstandslos führen und hielt sich sogar selbstständig auf den Beinen. Behutsam dirigierte Marie sie durch den Flur ins Badezimmer, ließ sie auf den Toilettendeckel sinken und half ihr, das schmutzige Nachthemd auszuziehen. Karin blieb in sich zusammengesunken sitzen und ließ alles mit sich geschehen. Ihr Blick war noch immer nach innen gekehrt, aber auf ihren fahlen Lippen war ein Lächeln erschienen, das die spröde Haut in ihren Mundwinkeln aufspringen ließ. Eine schmale Blutspur rann über ihr Kinn.
Sie war so dünn!, dachte Marie erschrocken. Ihre Mutter war schon immer schmal gewesen, aber jetzt wirkte sie geradezu ausgezehrt. Ihre Rippen stachen unterhalb der kleinen, schlaffen Brüste scharf durch die Haut, die weiß und durchscheinend aussah wie Reispapier. Darunter waren die Schemen der Feen zu sehen wie
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