Als die schwarzen Feen kamen
Schattenrisse. Marie glaubte sogar, winzige Finger zu erkennen, die von innen kleine Beulen wie Mückenstiche in die Haut drückten.
Sie schluckte den Würgereiz herunter, als der scharfe Geruch von Schweiß und Urin ihr in die Nase stach, und warf das durchnässte Nachthemd ins Waschbecken. Es stank wirklich erbärmlich. Dann zog sie ihre Mutter sanft in die Höhe und half ihr, in die Dusche zu steigen. Karin blieb mit hängenden Armen stehen, während Marie den Hahn aufdrehte und wartete, bis das Wasser warm wurde. Vorsichtig rieb sie den Körper ihrer Mutter mit einem Waschlappen und etwas Seife ab. Als der saure Gestank verschwunden war, drehte sie das Wasser wieder ab und wickelte ihre zitternde Mutter in ihren Morgenmantel. Sie würde die Feen einfach ignorieren, dachte sie trotzig. Sie würde auf Karin aufpassen und keine Angst mehr haben.
» Lass uns ein bisschen Fernsehen, okay? Ich mache uns einen Tee.« Sie legte Karins Arm um ihre Schulter und führte sie langsam ins Wohnzimmer zum Sofa, wo sie sie behutsam in die Polster sinken ließ.
» Bleib hier, ja?«, sagte Marie und strich ihrer Mutter über den Kopf. » Ich hole uns was zu trinken.«
Sie wartete keine Antwort ab, sondern lief in die Küche hinüber, um Wasser in den Wasserkocher zu füllen und eine Packung von Karins Lieblingssaft aus dem Schrank zu kramen. Sie fühlte sich besser, viel besser als am Morgen. Stärker und beinahe gut.
Aber dann, gerade als sie ein Glas aus dem Regal nehmen wollte, regte sich ganz unerwartet ein altbekanntes Flattern in ihrer Brust. Erschreckt zuckte sie zusammen. Das konnte doch nicht wahr sein. Ausgerechnet jetzt? Aber warum? Sie durfte jetzt nicht zusammenbrechen! Ihre Tabletten– wo hatte sie ihre Tasche hingeworfen, als sie in die Wohnung kam?
Doch noch bevor das Flattern anschwoll, wurde Marie plötzlich klar, dass es diesmal anders war als sonst. Mehr eine Art Echo eines echten Anfalls, so als ob irgendwo in der Nähe…
Ein durchdringender Schrei ertönte aus dem Wohnzimmer. Das Glas fiel Marie aus der Hand und zersprang mit scharfem Klirren auf den Fliesen.
» Mama!«
Sie stürzte in den Flur und durch die offene Tür ins Wohnzimmer. Wie vom Schlag getroffen, blieb sie kurz hinter der Schwelle stehen. Ein spitzes Kreischen stach ihr in die Ohren, dass sie meinte, taub zu werden.
Doch erst als sie taumelte und ihr allmählich schwarz vor Augen wurde, begriff sie, dass sie selbst es war, die schrie, und dass sie einfach nicht aufhören konnte, ihr Entsetzen laut herauszubrüllen.
Das Wohnzimmer war voller Feen.
Der Kopf ihrer Mutter war nach hinten über die Sofalehne gekippt, ihr Mund stand in stummer Angst weit offen, und die Augen waren nach oben verdreht, dass nur noch das Weiße zu sehen war. Rötlicher Schaum stand vor ihrem Mund. Ihre Hände zuckten und verkrampften sich in die Polster. Und mitten in ihrem Brustkorb klaffte ein blutiges Loch mit fransigen Rändern, gut zwei Handbreit groß, durch das unzählige Feen eine nach der anderen ins Freie brachen. Sie tanzten durch die Luft wie groteske Schmetterlinge und hüllten Marie innerhalb kürzester Zeit ein wie ein surrender Schwarm riesiger Insekten. Panisch schlug sie nach den hässlichen kleinen Körpern, traf hier einen zerbrechlichen Arm und spürte dort einen Flügel unter ihren Fingern reißen, wich zurück und schlug schließlich mit einem Knall die Tür hinter sich zu, bevor sie in ihr Zimmer stürmte und von innen abschloss. Doch das Rauschen und Summen der Feenflügel konnte sie nicht aussperren, und auch nicht das dumpfe Pochen, mit dem die Körper der Feen gegen die Wohnzimmertür prallten, oder ihr grelles Kreischen und wildes, triumphierendes Lachen. Mit zitternden Fingern zerrte Marie ihr Handy aus der Hosentasche und suchte in ihrem Portemonnaie nach dem Zettel mit Gabriels Nummer. Der Atem kam abgehackt und stoßweise aus ihren Lungen. Beim Versuch, Gabriels Nummer zu wählen, vertippte sie sich mehrfach. Erst der vierte oder fünfte Versuch gelang. Wenn er nur abnahm! Wenn er nur nicht gerade im Unterricht war! Bebend presste sie das Telefon an ihr Ohr, aber sie musste nicht lange warten. Gabriel antwortete, kaum dass das zweite Freizeichen vorbei war.
» Marie?«
Eine Welle der Erleichterung brach über ihr zusammen. » Komm schnell!« Es kostete sie große Mühe, überhaupt einen klaren Gedanken zu fassen, also sprach sie einfach aus, was ihr als Erstes durch den Kopf schoss. Sie glaubte, keine Luft mehr zu
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