Als die Uhr dreizehn schlug
interessierte – und Peter genauso –, war das Bäumeklettern. Er vergaß nie seinen ersten Baum in diesem Garten – eine der Eiben am Rand des Rasens. Er war noch niemals vorher auf eine Eibe geklettert und seither hatte er immer das Gefühl, Eiben seien am besten.
Die unteren Äste waren lang genug und der Stamm hatte Höcker und Risse. Mit den Zehen des linken Fußes in einem dieser Risse, umklammerte Tom den Ast über seinem Kopf. Dann stieß er sich vom Boden ab, machte einen kräftigen Klimmzug mit den Armen, und schon baumelten seine Beine in der Luft und der Ast war unter seiner Brust und dann unter seinem Bauch. Er zog sich noch weiter nach oben, wobei er sich gleichzeitig fachmännisch drehte. Jetzt saß er auf dem Ast, in Manneshöhe über dem Boden.
Von da war der Aufstieg leicht, aber interessant, mal über die am weitesten ausgestreckten Äste, mal nahe am Stamm. Tom spürte gerne die trockene Rinde des Stammes unter den Händen. An einigen Stellen war die Rinde abgeblättert und darunter zeigte sich ein tiefes Rosa, als ob der Baum unter seinem Braun aus Haut und Fleisch bestehen würde.
Er kletterte weiter – höher und höher, und endlich brach er durch das dämmrige Innere des Baumes hinaus in eine Weite aus Blau und feurigem Gold. Das Gold war die Sonne an einem blauen Himmel. Um ihn erstreckte sich das sprießende, büschelige Gewoge ewigen Grüns. Er war nun auf einer Höhe mit den Spitzen aller Eiben entlang dem Rasen und fast auf einer Höhe mit der südlichen Mauerkrone.
Tom war auch auf einer Höhe mit den oberen Fenstern des Hauses auf der anderen Seite des Rasens. Eine Bewegung in einem der Zimmer erregte seine Aufmerksamkeit: Es war das Hausmädchen, das er einmal im Flur gesehen hatte. Sie putzte ein Schlafzimmer, und jetzt trat sie ans Fenster, schob es hoch und schüttelte den Staubwedel aus. Dabei sah sie beiläufig zu den Eiben herüber und Tom winkte ihr zu. Doch es war, als ob er der Kuh im Blindekuhspiel zuwinken würde.
Das Mädchen ging zurück ins Innere des Zimmers, um weiter Staub zu wischen. Das Fenster ließ sie offen, und jetzt konnte Tom mehr erkennen. Außer dem Mädchen war noch jemand im Zimmer – jemand, der an der Wand gegenüber dem Fenster lehnte. Offensichtlich sprach das Mädchen mit ihrer Zimmergenossin, während sie arbeitete, denn Tom konnte das leise Auf und Ab von Stimmen hören. Die andere Gestalt konnte er nicht klar erkennen, doch stand sie reglos da, das weiße Gesicht unablässig ihm zugewandt. Dieser beharrliche Blick war Tom unheimlich. Ganz allmählich begann er den Kopf nach unten zu ziehen, und dann duckte er ihn jäh hinab ins Geäst des Baumes.
Später, unten im Garten, sah Tom noch mehr Menschen. Zur Vorsicht ging er ihnen aus dem Weg, doch da er für das Hausmädchen unsichtbar gewesen war, bewegte er sich mit einer gewissen Kühnheit.
Er war sich ziemlich sicher, dass der Garten häufiger benutzt wurde, als er es miterlebte. Oft hatte er den Eindruck, eben noch seien Menschen da gewesen – und manchmal auch das viel unangenehmere Gefühl, das er sich jedoch auszureden versuchte, jemand sei dageblieben: jemand, den nicht Tom beobachtete, sondern der ihn beobachtete. Aber im Grunde war es eine Erleichterung, Menschen zu sehen, auch wenn sie ihn nicht beachteten: das Hausmädchen, den Gärtner und eine streng aussehende Frau in einem langen, purpurnen Seidenkleid, der Tom, als er um eine Ecke gebogen war, plötzlich ins Gesicht sah. Sie achtete keine Sekunde auf ihn.
Sichtbarkeit… Unsichtbarkeit… Für die Menschen im Garten war er zwar unsichtbar, nicht ganz jedoch für wenigstens einige der anderen Geschöpfe. Ob sie ihn richtig sahen, wusste er nicht; die Vögel immerhin wandten ihm die Köpfe zu, und wenn er näher kam, flatterten sie davon.
Und hatte sein Körper in diesem Garten irgendein Gewicht? Nein, glaubte Tom zunächst. Als er auf die Eibe geklettert war, musste er verblüfft feststellen, dass sich kein Ast unter seiner Last bog und kein Zweig brach. Später – und zu seiner großen Enttäuschung – fand er heraus, dass er keine Tür im Garten einfach mit dem Griff und dem Druck seiner Hand öffnen konnte. Er konnte die Tür des Gewächshauses oder des kleinen Heizungsgebäudes dahinter nicht aufmachen, auch nicht die Tür in der Südmauer neben der Sonnenuhr.
Die für Tom verschlossenen Türen versetzten seiner Neugier einen Dämpfer, bis ihm ein einfacher Ausweg einfiel. Er würde durch die Türen kommen, die ihn
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