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Als die Uhr dreizehn schlug

Titel: Als die Uhr dreizehn schlug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippa Pearce
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durch Tom hindurch in die Ferne. Er steckte die Reste eines dicken Schinken-Sandwiches in den Mund. Er schluckte den letzten Bissen, schloss die Augen und sagte laut: »Für alle guten Dinge danke ich Gott; möge er mich vor allen Listen des Teufels schützen, damit dieser mir kein Leid tut.«
    Er sprach mit der Stimme eines Menschen vom Lande, die Ts verschlurend und die Vokale dehnend, sodass Tom aufmerksam lauschen musste, um ihn zu verstehen.
    Der Gärtner öffnete die Augen, langte hinter sich und brachte ein weiteres Sandwich zum Vorschein. Tom fragte sich verdutzt, ob er nach jedem Sandwich Gott dankte. Vielleicht wusste er gar nicht, wie viel Brote er noch verspeisen würde.
    Während der Gärtner weiteraß, sah Tom sich ein wenig um. Er war in einem Obstgarten, in dem sie auch Hennen hielten, Wäsche zum Trocknen aufhängten und Unkraut verbrannten. Jenseits des Obstgartens erstreckten sich Wiesen mit Bäumen, zwischen denen Dächer hervorlugten, die zu einem Dorf gehören mussten. Tom behielt den Gärtner wachsam im Auge. Als der Mann sein Mahl endgültig beendet hatte, packte er die Griffe der Schubkarre und machte Anstalten, zur Arbeit in den Garten zurückzukehren. Im Nu war Tom neben ihm. Durch eine verschlossene Tür zu gehen war kein Genuss gewesen und er hatte nicht die Absicht, es noch einmal zu tun. Diesmal fand er einen simpleren Weg. Flink hüpfte er in die leere Schubkarre und wurde bequem in den Garten zurückgerollt.
    Es dauerte lange, bis sich Tom wieder buchstäblich durch eine Tür zwängte. Jedenfalls hatte er den Obstgarten gesehen und das reichte vorerst; andere Türen konnten warten. Unterdessen überstieg er die niedrige Mauer am anderen Ende des Gartens und erkundete den Wald dahinter. Und auch auf der dritten Seite kroch er ein weiteres Mal durch die Hecke und überquerte die Wiese. Die einzige Überraschung dort war eine Grenze, ein Fluss, klar und sanft dahinströmend, das flache Wasser grün von Schilfgras und Wasserpflanzen.
    Der Garten und seine Umgebung standen also an und für sich nicht außerhalb der natürlichen Ordnung der Dinge; und auch seine eigenen übernatürlichen Fähigkeiten beunruhigten Tom nicht. Doch manches machte ihn immer wieder stutzig: das ständig gute Wetter, das rasche Kommen und Gehen der Jahreszeiten, das Gefühl, beobachtet zu werden.
    Eines Nachts erreichte dieses unangenehme Gefühl seinen Höhepunkt. Er war, wie üblich, um Mitternacht aus dem Bett gekrochen und in den Hausflur hinuntergeschlichen. Er hatte die Gartentür geöffnet. Und zum ersten Mal war es auch im Garten Nacht. Der Mond stand am Himmel, doch unablässig flogen Wolken über sein Gesicht. Während oben in den Lüften viel Bewegung herrschte, regte sich unten auf der Erde nichts. Eine mächtige Stille lag über dem Garten und eine drückendere Hitze als am Nachmittag. Tom spürte es, er knöpfte seine Schlafanzugjacke auf und ließ sie flattern, während er durch den Garten ging. Er konnte das aufziehende Gewitter riechen. Bevor er das andere Ende des Gartens erreicht hatte, war der Mond verschwunden, von Wolken verdunkelt. An seine Stelle trat ein anderes Licht, das den Himmel einen Augenblick lang von oben bis unten zu spalten schien, und ein paar Sekunden später kam der Donner.
    Tom kehrte zum Haus zurück. Als er die Schwelle erreicht hatte, brach der Wind in die unteren Luftschichten durch, heftiger Regen setzte ein und es wurde eisig kalt. Dämonen der Luft schienen im Garten losgelassen zu sein; und da die Blitze immer schneller aufeinander folgten, konnte Tom sehen, wie der Wind wütend am Blattwerk der Bäume rüttelte und zerrte. An der einen Ecke des Rasens schwang die hohe, spitz zulaufende Tanne hin und her, mit ihren von Efeu umrankten Armen wild gegen den Sturm ankämpfend.
    Tom kam es vor, als ob die Tanne mit jedem Mal weiter ausschwang. Sie kann nicht umgeweht werden, dachte Tom. Starke Bäume werden selten umgeweht.
    Wie zur Antwort darauf donnerte es ohrenbetäubend, der Wind zerrte unablässig weiter, und ein Blitz entlud sich nicht irgendwo jenseits der Mauer, sondern schlug im Garten selbst ein, genau in diese Tanne. Gleißend hell war das Licht, und Tom musste die Augen schließen, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde. Als er sie wieder öffnete, war der Baum eine einzige Flamme, die zu Boden sank. In dem langen Moment des Fallens schienen die Winde vor Schreck zu schweigen; und in dieser Stille hörte Tom etwas – den Schrei eines Menschen –

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