Als die Uhr dreizehn schlug
jetzt brach eine Art Gänsehölle los. Auf einmal schienen es nicht mehr zwei Gänse und ein Gänserich zu sein, sondern ein Dutzend, die das Geschrei von Hunderten machten. Weit ausgestreckte weiße und graue Flügel schienen den ganzen Rasen zu bedecken und flirrten durch die Luft. Gänse, Gänserich und Gänschen rannten ziellos umher, voll Zorn oder Angst, und trampelten über Blumenbeete, über ihre eigenen Häufchen und übereinander – Tom sah, wie sich der Gänserich zur Verteidigung seiner Jungen aufrichtete und mit seinem riesigen flachen Fuß auf den Rücken eines der Kleinen tapste. Glücklicherweise ist ein großer Schwimmfuß bei weitem nicht so gefährlich wie ein Stiefel, und das Gänschen sah danach kaum flacher aus – aber doch etwas zerzauster.
Am Ende nahmen nur die Blumenbeete und der Rasen Schaden – allerdings recht beträchtlichen. Selbst der Hund war so klug gewesen, mit eingezogenem Schwanz durch den Sturm der schnappenden Schnäbel und an der Gartenmauer entlang zurück ins Haus zu laufen. Auch Abel und die Jungen zogen sich ein wenig zurück: Ein zur Raserei getriebener Gänserich, die Gattinnen an seiner Seite und die Kleinen hinter ihm oder gar unter ihm – das ist ein einschüchternder Anblick.
Also warteten sie, bis das Gekreische sich ein wenig gelegt hatte, dann – diesmal noch vorsichtiger – begannen sie wieder mit dem Gänsetreiben. Hatty rannte voraus und öffnete die Tür zum Obstgarten.
Tom blieb in seinem Versteck. Es gab jetzt nichts mehr zu sehen, außer dem wüst mitgenommenen Rasen und dem einzigen Menschen, der auf der Türschwelle stehen geblieben war: Hattys Tante. Tom wusste schon, dass sie streng aussah; aber jetzt mochte er ihren Gesichtsausdruck noch weniger.
Tom und Hattys Tante konnten dort, wo sie standen, hören, was geschah. Die Gänsetreiber erreichten die Obstgartentür und offenbar konnten sie die Gänse wohlbehalten hindurchscheuchen, denn einer der Jungen stieß einen Siegesschrei aus und dann fiel eine Tür ins Schloss.
Tom wartete darauf, dass sie zum Haus zurückkehrten, doch das taten sie nicht. Schnell wurde ihm klar, dass sie zur Wiesenseite des Gartens hinübergingen, um herauszufinden, wie die Gänse überhaupt hereingekommen waren. Währenddessen waren gelegentliche Klagerufe von Abel zu hören. Ein wenig später hörte er ihre Stimmen entlang der Wiesenhecke. Dann, endlich, erschienen sie wieder auf dem Rasen.
Hatty war nicht bei ihnen. Tom vermutete, dass sie sich nun, da sie ihren Teil der Schuld kannte, versteckt hatte.
Während die anderen über den Rasen kamen, stimmte Abel ein tiefes, lautes Klagelied an: von zerfledderten Salatköpfen und anderen Plünderungen, von zertrampelten und abgeknickten Setzlingen, von Gänsehäufchen, wo sie am unpassendsten waren. Und dann, als Antwort auf eine scharfe Frage seiner Herrin, berichtete er von der Lücke und von dem Tunnel in der Hecke, durch den die Gänse gekommen sein mussten.
»Wie sie sich diesen Weg bahnen konnten, ahnungslos, wie sie sind, das weiß der Himmel; außer der Teufel selbst hat es ihnen gezeigt«, sagte Abel niedergeschlagen und verwundert zugleich.
»Das waren nicht die Gänse«, sagte Edgar plötzlich. »Sondern Hatty.« Es war nur eine Vermutung, da war sich Tom sicher, doch sofort leuchtete allen ein, dass es stimmen konnte.
Abel hatte mitten im Satz abgebrochen, als ob er sich die Sache noch einmal überlegen wollte. Auch die anderen blieben stumm – so stumm, dass sogar Tom hinter seinem Baum Hattys Tante atmen hörte: schwer und rasselnd.
»Harriet!«, rief sie, so laut und barsch, dass es gar nicht wie die Stimme einer Frau klang.
Hatty kam aus ihrem Versteck und ging über den Rasen auf die Tante zu, nicht schnell, nicht langsam. Ihr Gesicht war weiß, sodass ihre Augen und ihr Haar noch schwärzer schienen als sonst. So weiß war ihr Gesicht, erinnerte sich Tom später, dass selbst die Farbe aus ihren Lippen entwichen war.
Hatty trat vor die Tante. Sie fragte nicht, ob Hatty die Lücke und den Tunnel gebahnt hatte und warum; sie stellte keine der Fragen, die Tom erwartet hatte; sie stellte überhaupt keine Fragen. Sie sagte: »Du bist schuld.«
Hatty antwortete nicht. Tom kam es vor, als könne sie überhaupt nicht sprechen. All die Menschen, die Hatty mit ihrer Einbildungskraft in diesen Garten geholt hatte – biblische Helden und Elfen und Menschen aus Legenden und Erzählungen und ihrer eigenen Phantasie –, all ihre Freunde verließen sie
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