Als die Uhr dreizehn schlug
von der Standuhr ab und ging hinüber zur Treppe. Sie hatte einen Läufer, der auf jeder Stufe mit einer glänzenden Bronzestange befestigt war und Stufe um Stufe weich und sanft die Treppe emporführte.
Tom blieb vor der Treppe stehen. Was sollte er jetzt tun? Hinter ihm lag das Königreich des Gartens, dessen einzige Bewohner er und Hatty und Abel waren – und Abel hatte sogar bestritten, dass es mehr als zwei Bewohner gab. Dieses Königreich verließ er und trat nun ein in das Haus der Melbournes. Schon jetzt schien die Familie und ihr Leben auf ihm zu lasten. Am Fuß der Treppe, an der rechten Wand, sah er eine Reihe von Kleiderhaken, an denen Hüte und Mützen und Mäntel und Capes der Melbournes hingen. Daneben stand ein Schuhschrank; Tom wusste, dass es ein Schuhschrank war, denn die Tür stand auf und er konnte die Regale darin sehen und darauf alle Stiefel und Halbschuhe und Pantoffeln und Pumps und Gummistiefel und Anglerstiefel und Gamaschen. Gegenüber den Kleiderhaken, links von Tom, stand ein weiteres Regal, und darauf hatte jemand zwei marmorfarben eingebundene Geschäftsbücher, ein kleines Tintenfass und ein altmodisches Lineal aus Elfenbein hinterlassen. Welchem Melbourne gehörten diese Sachen? Neben dem Regal war eine Tür – die Tür, durch die Susan einmal mit dem Feuerholz und den Streichhölzern gekommen war. Jetzt hörte Tom dahinter ein Gemurmel von Frauenstimmen. Er konnte nicht hören, was sie sagten, und auch nicht, wer da sprach, auch wenn er sich einbildete, eine der Stimmen klinge nach Susan.
Tom fühlte sich allein unter vielen Fremden. Hatty war verschwunden und insgeheim befürchtete er, für immer. Abel hatte gesagt: »Sie lebt.« Doch vielleicht hieß das »Sie ist gerade noch am Leben« oder sogar »Sie lebt, aber nicht mehr lange«. Tom war stets davon überzeugt gewesen, dass Hatty ein Geist war, und nun musste er sich eingestehen, was das bedeutete: dass sie irgendwann gestorben sein musste. Geister mussten immer sterben, bevor sie Geister wurden – Toms Denken verlief in wirren, angsterfüllten Bahnen.
Er musste all seinen Mut zusammennehmen, um weiterzugehen und den Fuß auf die erste Stufe dieser sanften, stillen Treppe zu setzen. Vielleicht – obwohl Tom sehr mutig sein konnte –, vielleicht hätte ihm das letzte bisschen Mut gefehlt, wenn er nicht die Standuhr hinter sich gehört hätte. Ihr Ticken klang für ihn wie ein lebendiges menschliches Herz und er dachte dabei an Hatty. Er gab sich einen Ruck und stieg die Treppe empor.
Oben im ersten Stock angekommen, war er in einem Teil des Hauses der Melbournes, den er nie zuvor gesehen hatte. So kam es Tom jedenfalls vor. Er hatte vergessen, dass dies das Haus war, in dem auf irgendeine Weise auch Tante und Onkel und die anderen Mieter lebten. Jetzt erinnerte ihn kaum etwas daran. Der Flur im ersten Stock der Melbournes war mit einem Teppich ausgelegt und breiter als der Korridor zwischen den Wohnungen, wie Tom ihn kannte. Statt zweier Eingangstüren zu den Wohnungen führten viele Türen von diesem Korridor ab und hinter jeder lag ein Schlafzimmer. Die schmale Treppe, die geradewegs zu Mrs Bartholomews Tür geführt hatte, mündete nun auf einem kleinen Treppenabsatz mit drei Türen.
Tom sah sich um. Alle Türen waren geschlossen, ebenso die Türen oben im Dachgeschoss. Hinter welcher dieser vielen Türen lag Hatty? Einen Hinweis gab es nicht, deshalb wählte Tom einfach die erste Tür, holte tief Atem, konzentrierte sich, spannte die Muskeln und trieb seinen Kopf geradewegs durch das Holz in das Zimmer auf der anderen Seite.
Hier war Hatty nicht. Die Schutzbezüge über dem Bett und den anderen Möbeln zeigten ihm, dass dieses Schlafzimmer nicht benutzt wurde. Das Fenster ging auf den Garten hinaus und Tom konnte selbst von der Tür aus die Spitzen der gegenüberliegenden Eiben erkennen und die mächtige, efeubewachsene Tanne, die noch immer über sie emporragte. Er dachte sich nichts weiter dabei, denn er suchte Hatty, doch später sollte er sich daran erinnern.
Er zerrte den Kopf zurück und überlegte, was er jetzt tun konnte. Er hatte eigentlich vorgehabt, den Kopf nacheinander durch alle Türen zu stoßen, bis er Hatty fand. Doch jetzt fragte er sich, ob das wirklich klug wäre. Schon jetzt war er müde; die Ohren schrillten ihm, die Augen schmerzten, und selbst sein Magen, der auf der anderen Seite der Tür geblieben war, krampfte sich zusammen. Wenn er Hatty erst beim letzten Versuch finden würde, dann
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