Als die Uhr dreizehn schlug
alles, was du in deinen Briefen schreibst. Erzähl mir mehr davon. Ich würde am liebsten auch kommen, aber Mutter und Vater sagen nein.
Ich wünschte, wir hätten mehr Bäume und einen Fluss und eine hohe Mauer. Ich wär so gerne dort.
Dein Pete
Tom seufzte. Gerne hätte er Peters Wunsch erfüllt, wenn auch nur für eine Weile.
Tom las noch einmal den ersten Satz: »PAS S AUF!« Doch was konnten Kinder gegen die Entscheidungen tun, die die Erwachsenen für sie fällten, und besonders die Eltern? »Du musst Ende der Woche heimkommen«; und heute – Tom sah auf die Titelseite von Onkel Alans Zeitung –, heute war Dienstag. Er vermutete, sie würden vorschlagen, er solle Samstag oder Sonntag nach Hause fahren. Tante Gwen legte den Brief beiseite und lächelte Tom an, fast ein wenig bekümmert. »Nun Tom, wie es aussieht, müssen wir dir wirklich bald Auf Wiedersehen sagen.«
»Wann?«, fragte Tom wie aus der Pistole geschossen.
»Nächsten Samstag. Für Samstagmorgen gibt es eine billige Fahrkarte und deine Mutter meint, da du nicht mehr unter Quarantäne stehst, kannst du mit dem Zug fahren.«
»Nächsten Samstag?«, sagte Tom. »So bald schon?«
Plötzlich meldete sich der Onkel. »Wir werden dich vermissen, Tom.« Doch gleich darauf schien er überrascht – fast verärgert – über das, was er gerade gesagt hatte.
Tante Gwen sagte: »Deine Eltern schicken dir ganz herzliche Grüße, Tom, und freuen sich darauf, dich bald wieder zu sehen. Deine Mutter schreibt, dass Peter dich sehr vermisst; er sehnt sich nach dir und hat schon Tagträume; er braucht dich. Länger können wir dich beim besten Willen nicht bei uns behalten – wir können dich ja schließlich nicht adoptieren.«
Wenn sie ihn adoptierten, dachte Tom, könnte er hier bleiben; dann würde er seine eigene Familie verlieren: Mutter, Vater, Peter …
Tom spannte es in der Brust, als ob er an den Rippen auseinander gezogen würde. Er sehnte sich nach zweierlei, das er nicht unter einen Hut bringen konnte: Er wollte seine Mutter und seinen Vater und Peter und sein Zuhause – wirklich und von ganzem Herzen; und gleichzeitig wollte er den Garten nicht verlassen.
»Wenn ihr mich adoptieren würdet«, begann Tom, langsam und gequält.
»Das war doch nur ein Scherz, Tom«, sagte die Tante, um ihn zu beruhigen.
Das gelang ihr auch, wenigstens zum Teil, denn Tom wollte gar nicht das Kind der Kitsons werden und seine eigene Familie verlassen. Und dennoch brauchte er ein Mittel in der Not, um sich aus dieser verzweifelten Lage zu retten. Er wusste jetzt, dass er bald nach Hause musste – dagegen würde nichts helfen: keine Aufschübe, keine Erkältungen, schon gar keine Adoption. Samstagmorgen hatten sie gesagt, und dabei blieb es.
Nächsten Samstag …
»Vielleicht kommst du nächstes Jahr wieder«, sagte die Tante, »und verbringst einen Teil deiner Sommerferien bei uns.«
Tom konnte ihr nicht antworten und danken, denn das nächste Jahr war noch so fern, und wenn er an den Abschied dachte, war ihm hier und jetzt so schwer ums Herz – so schwer ums Herz, dass man beinahe sagen konnte, sein Herz breche entzwei.
Den ganzen Morgen schien Tom das Ticken der Standuhr zu hören, die den Samstag näher brachte, Minute um Minute, Stunde um Stunde. Dafür hasste er die Uhr. Doch dann fiel ihm ein, dass die Standuhr noch in dieser Nacht, wenn Hatty den Pendelkasten öffnete, ihr Geheimnis preisgeben würde. Tom hatte nicht die leiseste Ahnung, was dieses Geheimnis sein könnte, doch er hatte das eigentümliche Gefühl, es sei wichtig, und er spürte einen Anflug von Hoffnung – die letzte Hoffnung. Deshalb hätte er die Minuten und Stunden bis heute Nacht am liebsten rasch vergehen sehen. Die Zeit bis dahin war noch so lang – und die Zeit bis Samstag war so kurz.
An diesem Nachmittag schrieb Tom Peter über den Garten, mit einer Hoffnung, die er eigentlich nicht verspürte; er versprach, am folgenden Tag ausführlicher zu schreiben. Dann, um das Ticken der Uhr nicht mehr hören zu müssen, machte er einen Spaziergang mit seiner Tante. Er hatte gefragt, ob es in der Nähe nicht einen Fluss gebe, und sie meinte ja und sie könnten ihn zusammen suchen. Sie schlenderten durch kleine, zurückliegende Wohnstraßen, bogen mal um diese, mal um jene Ecke, bis Tom überhaupt nicht mehr wusste, wo sie waren. Und dann kamen sie an eine Brücke.
»Hier ist dein Fluss, Tom!«, sagte Tante Gwen stolz.
Es musste derselbe Fluss sein, auch wenn er weder wie die
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