Als die Welt zum Stillstand kam
wie es aussieht, haben wir zwei Murkhas uns jetzt auch noch verlaufen.«
Eine halbe Stunde später erreichten sie doch noch Timothys Cube und wie erwartet war Eliza dort. Timothys Mutter entschuldigte sich unentwegt und beteuerte, sie habe Eliza längst zurückbringen wollen, sei aber von den Security-Kräften daran gehindert worden, die gesagt hatten, sie müssten bis zum Ende der Ausgangssperre am nächsten Morgen warten. Sie lud Brigid, Eliza und Celie ein, über Nacht zu bleiben. Das Frühstück würde zwar etwas spärlich ausfallen, aber man werde schon zurechtkommen.
Als alle um das Kartoffelfeuer vor dem Cube zusammensaßen, herrschte verlegenes Schweigen. Celie dachte zuerst, das läge an ihr, nach allem, was man über sie auf den Screens verbreitet hatte. Plötzlich brach eine Frau am Feuer in Tränen aus und lief weg.
Celie blickte ihr so erschrocken hinterher, dass Timothys Mutter sie sofort beruhigte: »Das hat nichts mit dir zu tun, Dawn. Sie hat … ihr Junge ist einer von den ermordeten Jungs gewesen.«
»Ein guter Junge, der Curly!«, sagte ein drahtiger Mann heftig. Er sah Celie finster an. »Er war in keiner Gang, wie es eure Propaganda überall rumposaunt. Keiner von den Jungs! Vielleicht haben sie beim alten Bergwerk rumgeschnüffelt, aber das ist doch kein Verbrechen!«
Die anderen am Feuer nickten. Timothys Mutter legte dem Mann eine Hand auf den Arm, aber er stieß sie beiseite. »Das soll sie ruhig hören! Ist mir doch egal, ob sie mich beim Bürgermeister anschwärzt!«
Celie wollte sich verteidigen, aber sie brachte kein Wort heraus. All das, was sie beiseitegeschoben hatte, um erst einmal Eliza zu finden, kam angesichts der Beschuldigung des Mannes wieder hoch. Sie stand auf, stammelte, dass sie noch etwas erledigen müsse, und rannte dann weg, einfach weg in die Dunkelheit.
Irgendwo im Hinterkopf wusste sie, dass es nicht besonders klug war, wenn sie so kopflos umherrannte. Im Dunkeln konnte sie hier draußen jederzeit stolpern und sich den Fuß verstauchen oder sogar ein Bein brechen oder jemand könnte sie überfallen oder … Aber das war ihr egal. Sie wollte nur laufen. Laufen, bis sie nichts mehr spürte als die Stiche in den Seiten. Laufen, bis sie keine Luft mehr bekam. Laufen bis ans Ende der Welt.
Plötzlich war da das Meer. Nicht blau, sondern schwarz-grau lag es vor ihr ausgebreitet. Wie ein Versprechen. Celie zog sich bis auf die Unterwäsche aus und lief ins Wasser. Dann schwamm sie erst einmal wie wild gegen die Kälte an, die sofort bis in ihr Innerstes kroch. Nach einer Weile wurde ihr wärmer und sie ging zu kräftig ausholenden Schwimmbewegungen über. Hier war die Welt noch so, wie sie immer gewesen war. Nur Wasser, Wellen, der Mond am Nachthimmel und die Sterne. Keine Boote, keine Menschen weit und breit.
Celie schaute nicht zum Ufer zurück. Sie konnte ewig so weiterschwimmen. Sie wollte ewig so weiterschwimmen. Hinaus aufs Meer. Wo es keinen Jason gab, kein Elend, nichts außer dem Wasser und dem Himmel.
Vielleicht war das die beste Lösung. Für alle. Wenn sie weiterschwamm, konnte Jason sie nicht mehr für seine Zwecke einspannen. Konnte nicht mehr ausnutzen, dass sie Jenna Kranens Tochter war. Wenn sie weiterschwamm, würde es endlich aufhören. Alles. Auch das Rad, das sich in ihrem Kopf drehte, seit Mom gestorben war. Alex, ihr bester Freund Alex, der nicht da gewesen war. Auf den sie jedes Mal wütend wurde, wenn sie nur an ihn dachte, und den sie zugleich so sehr vermisste, dass es wehtat. Aber da war noch mehr, und hier, auf dem ewigen Meer, ließ sie endlich zu, dass es hinter ihrer Wut hervorkam und sich im Mondlicht zeigte. Die verzweifelte Gewissheit, dass es ihre Schuld gewesen war. Weil sie diesen verdammten Akku aus Jennas Testtor genommen hatte und dabei an irgendeinen Hebel oder Knopf gekommen sein musste. Und das war der Grund gewesen, nicht Alex, nicht irgendein unerklärlicher Unfall, dass ihre Mom gestorben war. Und es war ihre Schuld, ganz allein ihre Schuld.
Mit dieser Schuld kann man nicht leben, nur sterben, dachte sie, aber während sie das dachte, bewegten sich ihre Arme und Beine weiter, hielten sie über Wasser und trugen sie vorwärts, obwohl sie ihnen befahl, aufzuhören, sie untergehen zu lassen, damit es endlich vorbei war.
Mit einem Mal spürte sie alles intensiver: die Kälte des Meeres, das Wasser auf ihrer Haut, das Mondlicht in ihren Augen, das Salz auf ihren Lippen, die Schwere in ihren Beinen, die Weite vor und
Weitere Kostenlose Bücher