Als die Welt zum Stillstand kam
einmal das Gefühl, dass es ihm doch ziemlich gut ging, auch wenn er den größten Teil seines Lebens mit Putzen verbrachte. Er kam hinter dem Tisch vor und packte den Schrubber mit neuem Schwung. Aber da sagte Sue: »Feierabend für heute, Kemal. Ich brauch jetzt erst mal was zu trinken.«
Kemal ließ den Schrubber fallen und lief hinter Sue her. Vorbei an der Screen, wo jetzt eine fast nackte Frau mit einem Staubsauger tanzte und dabei sang: »Mit Dirty Harry würde ich …« Die Screen wurde schwarz. Kemal hätte gern gewusst, wie das Lied weiterging, aber Sue war schon am Tor vor dem Eingang. Sie fluchte.
»Verdammtes Mistding! Wieso funktioniert das nicht?!«
»Die Tore sind immer für Sie da. Mit hundertprozentiger Garantie«, sagte Kemal, genau wie der Mann in der Werbung das immer machte. »Und das seit zwölf Jahren. Ohne Ausnahme.«
Sue schnaubte und hieb auf die Tür zur Torkabine ein. Nichts passierte. Schwer atmend drehte sie sich um und hielt ihm ihre Hand vor die Nase.
»Zwei Dinge, Kemal.« Ihr Zeigefinger schnellte hervor. »Erstens: Ausnahmen bestätigen die Regel. Zweitens«, jetzt war der Mittelfinger dran, »die Werbung lügt immer. Und das gilt ohne Ausnahme.«
Darüber würde Kemal noch mal nachdenken müssen, wenn er zu Hause war.
Sue überquerte die Straße und hielt auf das Tor an der nächsten Ecke zu. Kemal trottete hinterher. Doch dann kam ihm ein so schrecklicher Gedanke, dass er mitten auf der Straße stehen blieb: Hoffentlich funktionierten die anderen Tore noch!
Es war nämlich ein ziemlich weiter Weg von Genf bis nach Aydinlar, wenn man zu Fuß gehen musste.
Lyon, Marché U, Parkplatz
Diese verdammte Schlampe!
Er steckte seine Hände in die Taschen des Jacketts, aber das half auch nicht viel. Das Blut war überall. Er hasste diese Murkha! Selbst jetzt, wo sie tot war, machte sie ihm noch Ärger. Er musste hier weg und er musste die versauten Klamotten loswerden.
Er rannte über den Parkplatz zum nächsten Tor und riss die Tür auf.
Scheiße, jetzt hatte er Blut auf den Griff geschmiert! Da würden die Bullen ja sofort wissen, dass der Mörder dieses Tor benutzt hatte. Dann mussten sie nur noch die DNA-Profile der letzten Benutzer abrufen und schon hatten sie ihn. War ja kein Geheimnis, dass er was mit der Schlampe gehabt hatte.
Er verrenkte sich, um den Griff mit einer sauberen Stelle seines Jacketts abzuwischen. Im schummrigen Neonlicht konnte er kaum erkennen, was er da machte. Aber nach ein paar Minuten war er ziemlich sicher, dass er alles weggewischt hatte. Plötzlich hatte er eine teragute Idee.
Schnell vergewisserte er sich, dass niemand in der Nähe war – er hatte echt Schwein, dass in dem Laden nichts los war. Dann rannte er zu dem Container zurück, hinter dem die tote Schlampe lag. Er riss ein Stück von ihrer blutgetränkten Bluse ab, rannte zurück zum Tor und schmierte das Blut auf den Griff. Und auf die Griffe der anderen drei Tore in der Nähe auch.
Sollten sie doch ruhig Blut finden! Schade, dass er ihre Gesichter nicht sehen konnte, wenn sie feststellten, dass es nur von der Toten stammte und dass keine anderen Fingerabdrücke oder DNA-Spuren da waren.
Gemächlich schlenderte er im Schutz der Nacht davon. Er achtete darauf, nicht gesehen zu werden. Ein paar Straßen weiter betrat er ein Tor und gab als Ziel seine Stammkneipe an.
Das Licht in der Torkabine flackerte kurz, dann leuchtete eine rote Lampe auf. »Emergency power« stand auf dem Schild daneben. Er wollte die Tür öffnen, aber der Griff ließ sich nicht bewegen. Scheißding! Er schlug gegen die Tür.
Eine Stunde später hämmerte er sich immer noch die Fäuste wund und schrie sich heiser. Weitere vier Stunden später hockte er erschöpft und halb verdurstet auf dem Boden des Tors und hätte sich sogar über den Anblick von Bullen gefreut. Wenn nur endlich jemand kam und ihn hier rausholte!
Sri Lanka, Oper im Kumana National Park
»Warum dauert das denn so lange?«, fragte Anita nervös. »Wann ist die Pause endlich vorbei?«
Egal was Paul jetzt sagte, Anita würde nicht aufhören, auf ihrem Sitz herumzurutschen, als säße sie auf einem Ameisenhaufen.
Das lag nicht an der Oper – diese grandiose Inszenierung von »La Bohème« war nicht zufällig seit zehn Jahren jeden Abend ausverkauft. Aber es war das erste Mal, dass sie Marlene in der Obhut von Anitas Mutter gelassen hatten, und Anita hatte schon vor der Pause mehr auf das Baby-Vid in ihrem MoPad gesehen als auf die
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