Als die Welt zum Stillstand kam
Lieblingslied, »Irish Blessing«, bisher noch nicht dabei gewesen war. Die Bühne war völlig von der Menge verdeckt, aber die »Mobile Tunes« waren trotzdem so präsent wie »Big Brother« in dem Roman »1984«, weil das Konzert auf allen Screens an den Wänden der umliegenden Gebäude lief.
Hinter all dem Trubel war jedoch angespannte Erwartung zu spüren. Und je später es wurde, desto lauter wurden die Rufe nach Jason.
Celie konnte nichts dagegen tun: Auch sie wurde von der Spannung angesteckt, die man inzwischen mit Händen greifen konnte. Und obwohl sie sich immer wieder sagte, dass es für sie kaum einen Unterschied machte, ob die Tore ausgefallen waren oder nicht – sie glaubte sich selbst nicht. Denn ganz egal, ob sie die Tore nun benutzen wollte oder nicht: Wenn es sie plötzlich nicht mehr gab, würde das die ganze Welt erschüttern. Und auch diese abgelegene Kommune würde nicht davon verschont bleiben.
Plötzlich kam Bewegung in die Menge. Celie wurde gegen eine riesige Fotowand mit Bildern von berühmten Straßen gedrückt und konnte sich nur mit Mühe auf den Beinen halten. Jemand rief: »Da ist Jason!«, und dann schrien alle durcheinander.
Celie sah zum Balkon des Rathauses hinauf. Zuerst trat natürlich Conor hinaus, um die Lage zu sondieren. Er trug wie immer seine schwarze Polizeiuniform und eine misstrauische Miene, als erwarte er, dass jemand faule Tomaten auf Jason warf. Oder Schlimmeres.
»Ich weiß wirklich nicht«, flüsterte eine Frau neben Celie, »warum Jason diesen schrecklichen Mann als seine rechte Hand ausgewählt hat.«
Und dann trat Jason auf den Balkon. Seine weißen Jeans und das weiße Hemd leuchteten in der Abendsonne und hüllten ihn in eine Aura aus Licht. Langsam trat er an die Brüstung, wo die Mikrofone aufgebaut waren. Die Hunderten Menschen auf dem Platz und in den Straßen waren mucksmäuschenstill. Jeder Einzelne von ihnen sah zu Jason auf, wie von einem Magneten angezogen. Auch Celie konnte den Blick nicht von ihm abwenden.
Jason schaute zu ihnen herab und wieder kam es Celie vor, als würde er nur sie ansehen. Dann begann er zu sprechen.
»Für uns Mobile ist heute ein ganz besonderer Tag, der ›Tag der Straße‹. Das allein ist schon ein Grund, zu feiern. Steht die Straße doch wie kein anderes Symbol für das, was unsere Bewegung ausmacht. Ob Champs-Élysées oder Prozessionsstraße im alten Babylon, ob Glasfaser- oder Stromkabel: Straßen waren und sind das Band, das uns alle verbindet – innerhalb einer Stadt ebenso wie zwischen weit entfernten Orten. Straßen führen zusammen, was getrennt war, und sie führen uns Menschen zueinander. Wir alle sind soziale Wesen: Keiner kann ohne Verbindung mit anderen leben. Das wussten die Menschen in der Antike ebenso wie die Mobilen.
Und trotzdem haben die meisten Menschen diese Verbindungen zueinander leichtfertig aufgegeben. Seit 2024 verfallen ihre Beziehungen ebenso schnell wie die alten Straßen. Die werden inzwischen nur noch als Transportwege für die Landwirtschaft genutzt – oder als Rennstrecken für sogenannte Sportler. Strom- und Glasfaserkabel sind ohne Wartung längst so verkommen, dass die Abhängigkeit vom Tornetz inzwischen allumfassend geworden ist.
Doch wir Mobilen wissen: Wenn die Straßen verschwinden, verschwindet das, was uns als Menschen ausmacht, mit ihnen. Darum halten wir unsere Straßen instand und bewegen uns auf ihnen – zueinander und miteinander. Und wir kämpfen gegen die unsozialen Tore, die die Menschen einander immer mehr entfremden!«
Vereinzelt wurde geklatscht, dann brandete stärkerer Applaus über den Platz.
Jason hob die Arme und alle verstummten wieder.
»Wir haben in den letzten Jahren einiges in unserer Umgebung bewegt. Unsere Kontakte zu den Menschen, die in unserer Nähe leben, werden immer besser, viele von ihnen kaufen inzwischen unsere lokal erzeugten Produkte. Wir schauen hoffnungsvoll in die Zukunft, in denen die Überzeugungen der Mobilen – dessen bin ich sicher – immer weitere Kreise ziehen werden.«
Jason nahm sich Zeit, in die Menge zu blicken, bevor er fortfuhr: »Doch auch wir sind nicht perfekt, auch wir sind nicht unfehlbar. Viele von uns kämpfen noch immer gegen die Verlockungen der scheinbar unbegrenzten Mobilität. Aber erinnert euch daran, was die Tore uns in der grauenvollen Zeit des Umbruchs gebracht haben: Verbrechen und Tod! Und darum sage ich euch hier und heute: Unsere Chance, die letzten Fesseln abzustreifen, die uns an
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