Als die Welt zum Stillstand kam
sich verabschieden wollte, bat Bernie ihn, ihn mit seinen Eltern in Indien zu verbinden. Kalle kriegte sich nicht mehr ein vor Lachen. »So weit kommen wir mit unserem CB-Funk leider nicht«, sagte er.
Bernie hätte sich in den Hintern treten können. Natürlich – die Reichweite des CB-Funks war ja auf wenige Kilometer begrenzt.
Kalle wünschte ihm alles Gute, dann beendeten sie das Gespräch. Und obwohl Kalle nichts Gutes über den Zustand der Welt hatte berichten können, war Bernie glücklich und aufgeregt. Bis jetzt hatte er nicht gewusst, wie sehr es ihm gefehlt hatte, einfach mit jemandem zu reden, der ihn weder umbringen noch bestehlen wollte.
Obwohl es ihm natürlich hätte zu denken geben müssen, dass er sich inzwischen regelmäßig mit einem Roachy unterhielt.
Auf der A10
»Bitte, lassen Sie uns vor, meine Kleine hat furchtbaren Durchfall.«
Der hagere Mann schob seine Tochter in der Schlange nach vorn, bis sie vor Alex standen. Alex nahm einige getrocknete Salbeiblätter aus einer der vielen Schüsseln vor ihm auf dem Tisch.
»Machen Sie ihr Salbeitee – heißes Wasser bekommen Sie da hinten – und geben Sie ihr genug zu trinken. Wenn Sie einen Apfel auftreiben können, soll sie auch geriebenen Apfel essen. Und wenn sie Fieber bekommt, kommen Sie noch mal wieder.«
Der Mann bedankte sich überschwänglich und legte einen Müsliriegel in den Korb, der neben Alex’ Tisch auf dem Boden stand. Darin hatten sich seit dem Morgen schon zwei kleine Akkus, ein halber Laib Brot, ein kleines Küchenmesser, einige Birnen, eine Schirmmütze und ein Modellflugzeug aus Holz angesammelt. Nicht gerade eine tolle Ausbeute, zumal Alex mit Nuray und Agathe halbe-halbe machte. Aber er behandelte jeden, egal ob er etwas zum Tauschen hatte oder nicht. Und in den letzten beiden Wochen hatte er genug eingenommen, um sich eine Weile durchschlagen zu können.
Wenn er nur endlich wieder losziehen könnte! Sein Knöchel heilte, aber solange er wehtat, konnte Alex nicht aufbrechen. Und es machte ihn immer mehr verrückt, dass er nicht mit Celie und seinen Eltern sprechen konnte, wie er es sonst jeden Tag getan hatte. Er wusste ja nicht mal, ob sie noch lebten! Es fühlte sich an, als würde ihm etwas Lebenswichtiges fehlen – eine Hand oder so. Und er hatte noch nicht gelernt, ohne sie auszukommen. Wenn das überhaupt möglich war.
Zumindest ging es ihm hier so gut, wie es einem verletzten Jungen in einer auseinanderbrechenden Welt nur gehen konnte. In der alten Raststätte wurde es immer voller, weil einige, die nur hatten übernachten wollen, geblieben waren und halfen, den Betrieb am Laufen zu halten. Und Agathe und Nuray konnten wirklich jede Hilfe im Garten, in der Küche und beim Wasserholen brauchen. Alex hatte Nuray geraten, bevorzugt kräftige Männer zum Bleiben zu überreden. Denn je besser die alte Raststätte funktionierte, hatte er argumentiert, desto größer wurde auch die Gefahr, dass eine Bande sich hier einnistete und den Laden für sich beanspruchte. Nuray hatte Alex angesehen, wie sie es immer tat, wenn er einen Vorschlag machte: als wäre er eine Kakerlake mit einem besonders kranken Sinn für Humor. Aber mittlerweile wohnten tatsächlich ein paar starke Männer hier, die Wasser aus dem drei Kilometer entfernten Karinchensee holten und nachts Wache hielten.
Das Wasserholen war dabei die gefährlichere Aufgabe. Wasser war neben Akkus zum wichtigsten Gut in der Welt ohne Tore geworden – zumindest in dem Teil der Welt, in dem Alex jetzt lebte. Vor allem die Städter versuchten, irgendwie zum Wasser zu kommen, weil sie nur dort überleben konnten. Und der Karinchensee war klein, aber er lag keine drei Kilometer von der Autobahn entfernt. Viele holten dort Wasser, bevor sie weiterzogen. Und einige von denen hatten keine Skrupel, diejenigen zu überfallen und zu berauben, die gerade Wasser geholt hatten.
Trotz allem war die Welt erstaunlicherweise immer noch nicht völlig zusammengebrochen und das lag auch an den vielen Flüchtlingen. Um sich Essen zu beschaffen, halfen manche den Bauern bei der Ernte, die ihre Felder ohne die wartungsintensiven Roachys sonst hätten verkommen lassen müssen, und ließen sich dafür in Naturalien bezahlen.
Da rund um Berlin vor allem Getreide angebaut wurde, standen Getreidemühlen für den Hausgebrauch hoch im Kurs. Und gerade in der alten Raststätte hätte man gut eine brauchen können. Aber in keiner der umliegenden Ortschaften war mehr eine zu bekommen und
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