Als es Nacht war in Dresden: Roman (Frauenromane) (German Edition)
zu gehen, es wäre sonst für mich zu anstrengend, meinte sie.
In dem Krankenzimmer stand dem Bett gegenüber eine Couch, wahrscheinlich dafür gedacht, wenn Angehörige bei dem Patienten Nachtwache hielten. Täglich besuchte mich Gertrud, setzte sich auf die Couch und wir tratschten wie zwei Waschfrauen, lachten, bis ich einen starken Hustenanfall bekam und Gertrud schnell durch die Türe verschwand, ehe die Schwester sie aus dem Zimmer verweisen konnte. Auf diese Abwechslung freute ich mich täglich. Manchmal brachte Gertrud mir etwas zu essen mit, obwohl ich mit Diätkost versorgt wurde, damit mein Magen nicht rebellierte. Dr. Brühne kam eines Morgens zu einer ungewohnten Zeit. Er kam gleich auf Dr. Auler zu sprechen und meinte, er sei von ihm eingeladen worden. Wenn ich wieder über den Berg sei, sollte er uns auf alle Fälle besuchen.
»Werden Sie die Einladung annehmen, Herr Dr. Brühne?«, fragte ich vorsichtig.
»Wenn Sie auch damit einverstanden sind, sehr gerne.«
»Aber ja«, entgegnete ich verlegen, »Dr. Auler ist der Hausherr, er lädt die Gäste ein, ich versuche dann so gut es geht, den Gästen einen angenehmen Aufenthalt zu ermöglichen.« Ich erzählte nun Dr. Brühne, dass der Haushalt zum Teil nur ein Provisorium sei. Leider sei das schöne große Haus mit all seinem Komfort nicht in gewohnter Weise zu bewohnen. »Ich bin nicht anspruchsvoll«, gab mir Dr. Brühne darauf zu verstehen, »vielmehr wollte ich diese Gelegenheit nutzen, um Dr. Auler kennenzulernen. Aber erst müssen Sie gesund werden und auf den Berg zurückkehren, dann können Sie ja versuchen, wie Sie sagten, auch mir einen netten Aufenthalt zu verschaffen.«
Das lange Liegen hatte mich geschwächt, der Husten war immer noch nicht besiegt. Trotzdem wurde es nie langweilig. Gertrud kam täglich, sie wusste immer etwas Neues zu erzählen, meine Angehörigen kamen abwechselnd, worüber ich sehr froh war. Aber das Heimweh nach Dresden wurde chronisch. Der Wunsch, an den Ort zurückzukehren, wo ich mit Karl und Gisela Pläne für die Zukunft geschmiedet hatte, war oft so stark, dass ich mir einmal die Bettdecke über den Kopf zog und einfach haltlos weinte. Es mangelte mir an seelischer Widerstandskraft. Durch das lange Liegen fühlte ich mich schwach, meine Gefühle hatte ich nicht mehr unter Kontrolle. So fand mich Dr. Brühne bei seiner Abendvisite. Er kam alleine, gleich trat er an mein Bett, zog mir die Decke vom Gesicht, schob schweigend seinen rechten Arm unter meinen Kopf und wiegte mich. Meine Tränen waren nicht mehr aufzuhalten. Erst nach einer ganzen Weile konnte er mich beruhigen.
»Weine, Mädchen, weine einfach nur.« Mit der linken Hand hielt er die meine und streichelte sie. Als mir die Situation bewusst wurde, stammelte ich eine Entschuldigung. Es war mir doch sehr peinlich, so erwischt zu werden.
»Da gibt es nichts zu entschuldigen«, hörte ich Dr. Brühne sagen, »das Erlebte muss verarbeitet werden und das gelingt nicht mit Schweigen. Möchten Sie reden? Ich höre Ihnen zu, ich habe ja Schweigepflicht«, versicherte er lächelnd.
Dankbar sah ich ihn an, zwar war sein Anblick schmerzlich für mich, ich wurde dabei zu sehr an Karl erinnert, dazu kam noch der weiße Kittel. Nur sehr langsam begann ich zu erzählen, noch war ich zu aufgewühlt von all den Gedanken, die kurz zuvor von mir Besitz ergriffen hatten. So erzählte ich von der Schule in Radebeul, von Karl und den Freunden, die ich schmerzlich vermisste, vom Vater, der in einem englischen Internierungslager einsaß, von den Großeltern, die mir in meiner Kindheit die Eltern ersetzt hatten, von der Mutterliebe, die mir nie richtig zuteil wurde. Ich spürte, wie der Arzt mich tröstend in den Arm nahm und seine Wange an meine legte. Plötzlich fühlte ich mich so leicht und geborgen, auf einmal war wieder das Bedürfnis da, ja, ich will doch leben.
In der Auffahrt zum Aulerhaus, auch Fliegerhorst genannt, stand ein Wegweiser. Ein auf einer Säule liegender Motor war 1910 bei einem Flugunfall unbrauchbar geworden. Unterhalb des Motors zeigte ein Pfeil in Richtung Haus, über dem Pfeil stand groß der Name Auler.
Von dieser Ansicht gab es Postkarten, die Auler gerne zum Jahreswechsel oder als Geburtstagsgruß verschickte. Eine solche Karte brachte mir meine Mutter bei ihrem letzten Besuch im Krankenhaus mit, adressiert war der Umschlag an die Adresse meiner Eltern. Auf der Rückseite der Karte stand:
Liebste Modder, de Dörr es up!
Sehr gerne sprach
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