Als es Nacht war in Dresden: Roman (Frauenromane) (German Edition)
Familie Ganter Sturm. Wir hörten, wie die Haustüre geöffnet und nach Alfons Ganter gefragt wurde. »Mein Mann schläft noch«, sagte Frau Ganter. Wir wussten, dass er wieder getrunken hatte. Wir wussten aber auch, was die schwarze Limousine zu bedeuten hatte. Alles ging sehr schnell, die beiden Männer weckten Alfons, während Frau Ganter das Nötigste einpackte. Dann hörten wir nur noch, wie das Auto wieder wegfuhr.
Meine Mutter erkundigte sich im Laufe des Tages bei Frau Ganter, ob alles in Ordnung sei. Frau Ganter konnte ja die Abwesenheit ihres Mannes nicht lange verheimlichen. Sie erklärte meiner Mutter, dass sie für ihren Mann eine Unterbringung gefunden hätte, wo er einen Entzug machen konnte. Es sei so das Beste für ihn, denn sie befürchtete sowieso, dass er Anti-Nazi Reden hielt, so wüsste sie ihn wenigstens für eine Weile gut aufgehoben. Alles war so glaubhaft, und Frau Ganter versicherte uns, dass es ihm gut gehe. Nach etwa sechs Monaten Abwesenheit konnte Frau Ganter ihren Mann das erste Mal besuchen, er sei sehr krank, hieß es. Meine Eltern fanden das allerdings merkwürdig. Besuche waren doch in solchen Fällen nicht an der Tagesordnung. Durch die dünnen Wände hörte ich Frau Ganter kurz nach ihrer Rückkehr in ihrer Küche laut weinen, meine Mutter war bereits bei ihr, um zu erfahren, wie es Alfons ginge. Da erzählte Frau Ganter meiner Mutter, dass sie ihren Mann zwangssterilisiert hatten. Dies ging wohl nicht spurlos an ihm vorbei.
Zwar begriff ich erst viel später, was mit Alfons passiert war, spürte jedoch bereits damals, wie dramatisch alles gewesen sein musste. Nach einem Jahr kam er wieder nach Hause, die Familie war überglücklich. Frau Ganter zählte schon lange vorher die Tage.
Diese Tragödie wiederholte sich noch zwei Mal, wir bekamen immer nur mit, dass Alfons wieder zur Entziehungskur abgeholt wurde. In Wirklichkeit, so erzählte mir Gertrud viele Jahre nach Kriegsende, wurde ihr Vater damals in ein Arbeitslager gebracht, weil er einfach den Mund nicht halten konnte. Dass er überhaupt wieder nach Hause kam, grenzte an ein Wunder. Den Krieg hatte er zwar überlebt, aber dafür hat ihn seine Alkoholsucht wieder heimgesucht und viel später das Leben gekostet.
Nach den Sommerferien 1940 sollte ich auf das Mädchenlyzeum wechseln. Mein Vater, der plötzlich wieder einmal in mein Leben trat, hatte dies mit meiner Mutter besprochen. Aber bis dahin war noch viel Zeit. Die Schulleitung der Grundschule hatte dazu geraten, erst das Pflichtjahr zu absolvieren, was ab dem 14. Lebensjahr ein Muss war. Es ging darum, ein Jahr in der Landwirtschaft zu helfen oder in einer kinderreichen Familie die Hausfrau zu unterstützen.
Kinderreiche Mütter bekamen damals eine Auszeichnung: für vier oder fünf Kinder gab es das Mutterkreuz in Bronze, für sechs oder sieben in Silber und für acht oder mehr in Gold. Diese Mutterkreuze wurden an einem breiten Band um den Hals getragen und sehr großer Wert darauf gelegt, dass sie in der Öffentlichkeit deutlich sichtbar waren.
Zum Abschluss des Schuljahres sollten wir alle noch einmal viel Spaß in einem Ferienlager im Schwarzwald haben. Trotz der etwas strengen Regeln gefiel es uns. Wir hatten zusammen mit noch drei weiteren Schulklassen viel Vergnügen und trotz fixem Stundenplan genügend Zeit für uns. Diese nutzten wir, um mit anderen Mädchen Kontakte zu knüpfen und unsere Adressen auszutauschen. Wir saßen an diesen Tagen oft in einem großen Kreis hinter dem Lager auf einer Wiese, erzählten uns Geschichten, sangen gemeinsam und machten fröhliche Spiele. In einer solchen Gemeinschaft fühlte ich mich immer wohl, besonders, wenn wir nicht antreten mussten. Man akzeptierte sich, wie man war, und keiner fragte danach, wieso ich den Namen meiner Großeltern trug. Ich hieß einfach so und das war in Ordnung. Der Aufenthalt sollte noch eine Woche fortgesetzt werden. Doch dann überschattete eine düstere Wolke unsere unbeschwerte Runde, und gleichzeitig kam es mir vor, als ginge unsere Kindheit zu Ende mit der Nachricht, die ein Lehrer in unserer Mitte verbreitete:
»Wir haben soeben die Nachricht bekommen, dass unsere Soldaten in Polen einmarschiert sind. Wir folgen unserem Führer und unterstützen unsere Soldaten mit dem Deutschen Gruß.« Wir mussten aufstehen, die Hand zum Hitlergruß heben und ›Deutschland, Deutschland über alles‹ singen.
Es war der 1.September 1939. Unser Aufenthalt wurde sofort abgebrochen, die Sachen
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