Als es Nacht war in Dresden: Roman (Frauenromane) (German Edition)
waren und das meiste eingeräumt war.
So reisten wir in der zweiten Novemberhälfte in Richtung Chemnitz. Es war für ein Wochenende geplant, damit die Familie von Herrn Weiler etwas mehr Zeit für uns hatte. Am Abend davor hatte ich meinen Großeltern Lebewohl gesagt. Der Abschied fiel mir sehr schwer. Schon der Gedanke, dass ich die liebsten Menschen eine längere Zeit nicht mehr sehen würde, war schmerzlich. Großvater sah mich an, seine Augen kamen mir besonders groß vor in dem Moment, als er zu mir sagte:
»Ich wünsche dir alles Glück dieser Welt, bleibe so ehrlich wie bisher.« Großmutter segnete mich, und ich versprach ihr, täglich zu beten.
»Dein Schutzengel möge dich überallhin begleiten«, sagte sie zuletzt mit Tränen in den Augen unter der Haustür. Großvater stand daneben und gab mir das Schönste mit auf den Weg:
»Hansli, du bist immer willkommen, hier ist und bleibt immer dein Zuhause.« Kurt brachte mich am frühen Morgen mit meinem Koffer zum Bahnhof, wir wurden bereits von der Familie Weiler erwartet. Helmut beruhigte sich, als er mich sah, und klammerte sich fest an mich. Es hieß ja heute Morgen früh aufstehen, und die Nacht musste er in einer fremden Umgebung in einem fremden Bett verbringen, das machte eben keine gute Laune. Es war mir schon klar, dass diese Reise für mich anstrengend würde. Laut Plan sollten wir zehn Stunden bis Chemnitz unterwegs sein, in Kassel musste umgestiegen werden, und Helmut wollte auch ausschließlich von mir betreut werden. Bei der Bahn gab es für den Personenverkehr drei Klassen. Die dritte Klasse war nur mit Holzbänken ausgestattet, die zweite Klasse war gepolstert mit durchgehenden Sitzen, die erste Klasse war für sechs Personen je Abteil, mit abgeteilten Sitzen und Kopfstützen. Aber schon die zweite Klasse war für diese lange Reise sehr angenehm. Wir konnten auch abwechselnd etwas schlafen. Allerdings war Helmut sehr aufgeregt, er schaute aus dem Fenster während der Fahrt und kam aus dem Staunen nicht heraus. Fragen über Fragen wollte er beantwortet haben. So gab es für mich dann nur eine Pause, wenn der Kleine schlief, den Kopf auf meinem Schoß, die Füße bei seiner Mutter. Das Umsteigen verlief auch nicht ohne Schwierigkeiten. Erst hieß es, dass nur wenige Minuten zum Umsteigen blieben, dann kam die Durchsage, dass der Zug sich um etwa 30 Minuten verspäten würde, aus den 30 Minuten wurde eine Stunde. Wie nun in Chemnitz die Angehörigen verständigen? Wir mussten uns einfach damit abfinden. Das lange Stehen auf dem Bahnsteig und das Gedränge hatten uns sehr angestrengt, zumal auch Helmut von einem auf den anderen Arm wanderte. Was waren wir froh, als wir wieder in einem Abteil saßen und endlich gegen 22 Uhr in Chemnitz ankamen. Wie viel der Zug insgesamt Verspätung hatte, spielte bei der Ankunft keine Rolle mehr.
Am Bahnhof in Chemnitz wurden wir abgeholt, heilfroh, die Fahrt hinter uns zu haben. Die Familie Weiler senior hieß uns herzlich willkommen, sie hatten von der Verspätung gehört und sich darauf eingestellt. Für uns war bei der Ankunft alles nett arrangiert: Essen und Trinken standen bereit, die Betten waren bezogen. Unser einziger Wunsch jedoch war schlafen und nochmals schlafen. Besonders Helmut war nicht mehr zu halten. Über das Wochenende schlief der Kleine mit seinen Eltern im Gästezimmer, ich verbrachte die Nächte auf dem Sofa; aber das war ganz in Ordnung.
Frau Weiler hatte meiner Vorgängerin noch vor der Abreise geschrieben und sie gebeten, sie möge sich doch in der Woche unseres Aufenthaltes ein wenig um Helmut und mich kümmern. Bei unserer Ankunft lag von ihr bereits ein Antwortschreiben vor, mit der Bemerkung, dass dies doch selbstverständlich sei. So kam sie gleich am ersten Tag zu uns und holte mich und den Jungen ab. Helmut freute sich riesig, als er Erna wiedersah, gleichzeitig wurde ich dadurch auch etwas von meiner Aufsichtspflicht entbunden. Helmuts Großeltern waren ebenso darüber erfreut, sie hatten ja tagsüber im Schuhgeschäft zu tun, so konnten sie, wie gewohnt, ihren Pflichten nachkommen. Meist hatte Erna bereits einen Vorschlag für die Nachmittagsgestaltung, an manchen Tagen verschlief Helmut den Nachmittag, dann setzten wir uns zusammen und erzählten einander aus unserem Leben. Erna kannte ich ja nur vom Hörensagen, aber wir hatten uns auf Anhieb verstanden, obwohl ich sechs Jahre jünger war als sie. Mir jedenfalls kam es vor, als würden wir uns schon eine Ewigkeit kennen.
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