Als es Nacht war in Dresden: Roman (Frauenromane) (German Edition)
wurde mir auch, dass wir bald einmal nach Dresden fahren würden. Bei der Gelegenheit wollte Frau Weiler eine Tante besuchen, die schon ihr Leben lang in Dresden lebte, eine betagte Dame. Alleine der Gedanke, nach Dresden zu fahren, das ja mit dem Zug in einer halben Stunde erreichbar war, ließ mich kaum an etwas anderes denken. An Großstädten kannte ich nur Basel, ich hatte dort zwei Mal meine Schulferien bei einer Schwester von Großvater verbracht. Dabei denke ich noch heute an das köstliche Weißbrot, die selbst gekochte Aprikosenmarmelade und an die Haushaltshilfe, die so herrlich Frühstücks-Zöpfli backen konnte. Aber Dresden, das ich ja noch nicht kannte, das klang wie Musik. ›In mir erklingt ein Lied, diese Melodie, dieses Lied‹, sang ich als Mädchen oft mit Kurt. Er liebte die Musik, genau wie ich. Was auch immer im Radio zu hören war, ob Oper oder Operette, er kannte sie allesamt, und viele Male sangen wir zusammen. Die Liebe zur klassischen Musik begleitete mich mein ganzes Leben. Wenn Beethoven zu hören war, vergaß ich die Welt um mich herum. Besonders liebte ich seine Klavierkonzerte oder das Violinkonzert in D-Dur. Vielleicht war es für mich möglich, hier auch Klavierunterricht zu bekommen. Aber vorerst musste dieses Vorhaben zurückgestellt werden. Hier standen mir viele Möglichkeiten offen, ich wollte versuchen, sie zu nutzen und die Augen für alles offenzuhalten. Was ich aber auf keinen Fall wollte, war, wie mein leiblicher Vater es gewünscht hatte, einmal Kinderärztin werden. Dieses Ziel gab mir keinerlei Ansporn: Blut sehen, Wunden nähen, kranke Menschen, in diesem Fall kranke Kinder, behandeln, sie trösten und um ihre Gesundheit bangen – das würde meine Kräfte bei Weitem übersteigen.
Frau Weiler sorgte nun dafür, dass ich voll ausgelastet war: kochen, backen, das ganze Programm. Die Anmeldung an der Berufsschule ergab noch eine weitere Möglichkeit für mich. Inzwischen hatte ich bemerkt, dass Herr Weiler oft über Magenschmerzen klagte. Wir kochten ihm Hafersuppe, Möhrengemüse, Kartoffelbrei usw. Man bot mir in Meißen an, wenn ich Interesse an einer Diätausbildung hätte und zweimal die Woche die Schule besuchte, dann wäre einmal speziell die Diätküche auf dem Lehrplan. Frau Weiler überlegte kurz und war dann damit einverstanden, dass ich ihr einen weiteren Tag nicht zur Verfügung stand.
Wahrscheinlich hatte sie dabei in erster Linie an ihren Mann gedacht. Diese Kurse mussten aber selbst finanziert werden, was ja natürlich mit den fünf Reichsmark, die ich im Monat bekam, nicht bezahlt werden konnte. Meiner Mutter schrieb ich per Eilpost einen ausführlichen Bericht und bat sie, die Kosten für diese Seminare zu übernehmen. Ihre Zusage kam prompt mit der Mitteilung, dass sie die finanzielle Angelegenheit mit Frau Weiler monatlich regeln wollte. Das Antwortschreiben meiner Mutter gab mir Frau Weiler schon geöffnet. Immer nahm sie als Erste die Post in Empfang und so blieb es auch, egal woher und von wem ich Post bekam, sie wurde geöffnet, gelesen und erst dann wurde sie mir übergeben. Auf alle Fälle wollte ich aufpassen, wenn der Briefträger kam, dass auch ich die Post in Empfang nehmen konnte. Oft gelang es mir nicht, aber einmal hatte sie doch mitbekommen, dass ich einen Brief an mich nahm. Sie stellte sofort die Frage, woher die Post sei, ich sagte ihr, dass ich den Brief schon zerrissen hätte, was auch der Wahrheit entsprach. Sie ließ sich die Schnipsel geben und puzzelte den Brief zusammen. Meiner Mutter schrieb ich nun heimlich, sie solle auf keinen Fall, wenn ich einmal etwas Außergewöhnliches schriebe, in ihrer Post darauf eingehen, es hätte bestimmt Nachteile für mich. Ich klagte daher nie, wenn ich einmal traurig war, dann musste einfach das Heimweh herhalten, das dann eben noch stärker war als ich. Besonders überkam es mich, wenn ich an meine Großeltern dachte, die ich sehr vermisste. Gewiss hatte ich mir alles leichter vorgestellt, aber nun musste ich das durchstehen.
Die Sonne zeigte sich am Himmel, als Frau Weiler mir offenbarte, dass wir am nächsten Tag nach Dresden fahren würden. Sie wollte sich bei der Gelegenheit umschauen, ob es schon Angebote für Weihnachten gäbe. Helmut war natürlich mit von der Partie, ich wünschte mir allerdings, dass er einigermaßen Geduld aufbringen würde, damit ich den Stadtbummel auch genießen konnte. Wir liefen vom Hauptbahnhof die Prager Straße in Richtung Altmarkt. Frau Weiler nahm mir
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