Als es Nacht war in Dresden: Roman (Frauenromane) (German Edition)
Enttäuschung noch größer sein? Jedenfalls hatte ich schwer damit zu kämpfen. Eines Nachmittags erschien Herr Schott bei uns zu Hause, er war, wie er Mutter sagte, schon bei den Großeltern gewesen, die er gut kannte und sehr schätzte. Er wusste ja auch, dass ich bei meinen Großeltern aufgewachsen war und wollte daher die Angelegenheit auch mit ihnen besprechen. Meine Mutter hatte sogar erst angenommen, dass ich irgendetwas angestellt hätte und Herr Schott sie nun davon in Kenntnis setzen wollte. Ich war mir keiner Schuld bewusst, aber erschrocken war ich schon. Da wir wussten, dass Herr Schott die Vormundschaft für Ganters Kinder übertragen bekommen hatte, überkam mich plötzlich der Gedanke, dass mit Gertrud etwas nicht stimmte. Herr Schott ließ uns nicht lange rätseln. Er erzählte uns, dass Gertruds jüngerer Bruder Michael, er war, soweit wir wussten, etwa acht Jahre alt, aus dem Heim verschwunden war und bei Gertrud in deren Zimmer genächtigt hatte. Frau Weiler war an diesem Abend von einer bekannten Familie eingeladen gewesen, sie bekam das Ganze erst am anderen Morgen mit, als Gertrud ihr alles beichtete. Natürlich musste Herr Schott sofort informiert werden. Er brachte Michael wieder in das Heim zurück. Schlimm an der ganzen Geschichte war, dass Frau Weiler angab, es fehle ihr ein wertvoller Ring, der von ihrer Mutter stammte. Sie war als junges Mädchen durch einen tödlichen Unfall ihrer Eltern zur Vollwaise geworden und wuchs damals in der Familie eines Onkels auf. Der praktizierte als Arzt in Hamburg und übernahm die Vormundschaft. Daher war ihr dieser Ring als Andenken an die Mutter besonders wertvoll. Unter diesen Voraussetzungen könnte Gertrud, so meinte Frau Weiler, nicht mehr im Haus bleiben. Herr Schott wurde gebeten, sich um eine andere Auszubildende zu kümmern, und gleichzeitig darauf aufmerksam gemacht, dass die Zeit auch dränge. Er trat nun mit der Frage an meine Mutter heran, ob sie mich Frau Weiler anvertrauen würde und die Einwilligung dazu gebe, mich mit nach Niederau übersiedeln zu lassen. Er bürge dafür, dass ich in guten Händen sei, das wäre er auch meinen Großeltern schuldig. Spontan fragte ich Herrn Schott, wo genau denn Niederau liege.
»Ganz in der Nähe von Dresden«, gab er zur Antwort. Mein Herz tat einen riesigen Sprung, ich musste meine Begeisterung etwas bremsen. Mutter sollte nicht denken, dass ich froh sei, von hier wegzukommen.
Für mich gab es keinen Grund, das Angebot nicht anzunehmen, es war für mich wie geschaffen. Mein Pflichtjahr musste ich ohnehin absolvieren, und ich hatte absolut keine Lust, danach auf das Lyzeum zu wechseln, nur sagen sollte ich das besser nicht. Für mich war es auf einmal so, als begänne nun mein wirkliches Leben, und ich hoffte nur inständig, dass dieser Traum sich nicht zerschlagen würde. Hatte ich dafür Gertrud im Stillen beneidet, tat sie mir nun sehr leid. Meine Mutter erbat sich Bedenkzeit, sie wollte dies alles noch mit den Großeltern besprechen, ebenso mit Kurt, auch müsste sie zumindest versuchen, meinen leiblichen Vater darüber zu informieren. In Anwesenheit von Herrn Schott bettelte ich bei meiner Mutter um die Genehmigung, diese Lehre machen zu dürfen und mit der Familie Weiler nach Niederau umziehen zu dürfen. Ich gab Mutter zu verstehen, dass sie doch wüsste, wie gerne ich backen und kochen würde, und es mir bestimmt viel Freude machte. Herr Schott versprach, sich die Antwort in ein paar Tagen zu holen, wenn wir alles überdacht hätten. Frau Weiler kam nach zwei Tagen selbst zu uns und stellte sich vor. Sie wollte damit meinen Angehörigen jeden Zweifel nehmen und beteuerte, dass ich bestimmt bei ihr in guten Händen sei. Gewiss sei es für ein noch nicht 15-jähriges Mädchen nicht so leicht, so weit weg von zu Hause zu sein, aber sie verspreche, alles zu tun, damit ich mich in ihrer Familie heimisch fühlte. Schnellstmöglich rannte ich zu meinen Großeltern und fragte sie ganz aufgeregt, was sie davon hielten, ob sie mich dabei unterstützten, meine Mutter zu überzeugen. Großmutter meinte etwas traurig, dass ich dann nicht mal eben vorbeikommen könnte, um mich trösten zu lassen oder um meine Kleidung in Ordnung zu bringen und, wenn nötig, flicken zu lassen.
»Weißt du, Oma«, erwiderte ich daraufhin, »ich muss langsam erwachsen werden, aufhören, mich mal wie ein Junge zu benehmen oder dann wieder mit den Puppen zu spielen. Du weißt doch, wie gerne ich lese, das werde ich in
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