Als es Nacht war in Dresden: Roman (Frauenromane) (German Edition)
verabschiedete. Aber dafür konnte es ja viele Gründe geben. Franzl wollte außerdem wissen, wie viele Schüler in unserer Klasse waren. Ob es auch männliche Teilnehmer gäbe. Ich sagte ihm, dass es seit Anfang der Woche einen neuen Schüler gab, den einzigen Mann in unserer Gruppe. Meines Erachtens war er bestimmt schon Anfang 30. Wenn ich seinen Namen richtig verstanden hatte, so hieß er Grabowsky. Nicht gerade sympathisch. Sein Blick machte mir Angst. Die Augen so stechend dunkel, beschreiben konnte ich ihn nicht näher, weil er auf mich abstoßend wirkte. Ich sah ihn deshalb gar nicht näher an.
»Doch die Mädels haben mich umgetauft«, erzählte ich eifrig.
»Wieso das?«, fragte Friedel erstaunt.
Nachdem sie meinen Vornamen gehört hatten, meinten einige der Mädels, Edith höre man aber nicht oft. Darauf erzählte ich, dass ich als Sechsjährige oft im Schlafzimmer vor einem großen Spiegel stand und lautstark verkündete: ›Ich möchte nicht Edith heißen.‹ ›Wie wolltest du denn heißen?‹, hatte mich Sofia, die Tochter einer Apothekerfamilie gefragt.
›Am liebsten ›Petra‹‹, antwortete ich. ›Mein Großvater rief mich immer Hansli, weil er sagte, an mir sei ein Junge verloren gegangen.‹
›Wisst ihr was‹, sprach Sofia alle an, ›wenn sie eigentlich ein Junge sein sollte, dann akzeptieren wir es auch und taufen dieses Mädchen auf den Namen ›Peter‹.‹ Und so kam es, dass ich ab sofort Petra="Peter" hieß. ›Also‹, beschlossen die Sterns, ›so heißt du auch bei uns ab heute Peterli‹. Nun habe ich aber eine Menge erzählt. Es war ein netter Nachmittag bei Sterns. Jetzt bist du dran, Gisela.«
Wir kochten uns Tee und genossen das Stück Streuselkuchen, das die Freundin mitgebracht hatte und das wir uns teilten.
»Stell dir vor«, war nun Gisela an der Reihe, »ich habe jemanden kennengelernt. Einen Leutnant, 24 Jahre alt, blond, er ist seit Wochen in Dresden im Lazarett. Ich wollte einfach nur eine Tasse Kaffee trinken, Kuchenmarken hatte ich keine, als er an mein Tischchen kam und mich fragte, ob er sich zu mir setzen dürfte. Natürlich bejahte ich, der Platz sei frei. Er stellte sich vor und sah dabei auf meine Kaffeetasse. Schließlich meinte er, ob der Kaffee so ohne alles schmecken würde. Er meinte, so ohne Kuchen.« Gisela erklärte ihm, dass sie nicht die Absicht gehabt hatte einzukehren und daher auch keine Kuchenmarken bei sich hätte. Laurenz, so hieß er mit Vornamen, schlug vor: ›Das lässt sich ändern, wenn ich Sie auf ein Stück Kuchen einladen darf. Wir bekommen im Lazarett Sonderzuteilungen, alleine schmeckt der beste Kuchen nicht, und in diesem Café ist der Kuchen sehr gut.‹
»Ich nahm die Einladung an«, gestand Gisela, »und dieses Mitbringsel an Kuchen ist auch von Laurenz. Für übermorgen habe ich mich wieder mit ihm verabredet. Wir wollen uns am Altmarkt treffen und dann zusammen etwas unternehmen. Hoffentlich bist du mir nicht böse, aber ich möchte ihn schon gerne wiedersehen. Doch zuerst machen wir noch gemeinsam die Schulaufgaben. Gegen 16 Uhr wollte ich am Altmarkt sein.«
»Mach dir keine Gedanken um mich. Ich freue mich für dich, wenn du jemanden gefunden hast«, ermunterte ich Gisela.
Es sollte sich für mich auch einiges ändern. Wenn ich so im Nachhinein die folgende Zeit in Gedanken Revue passieren lasse, überschlugen sich in den folgenden Monaten die Ereignisse. Man könnte der Meinung sein, dass all diese Geschehnisse für ein ganzes Leben ausreichten. Wie viel Kraft man oft aufbringen musste, um die Dinge zu verarbeiten. Wie viel es einem bedeutete, liebe Menschen um sich zu haben, sie zu trösten, schweigend in den Arm zu nehmen, über das Haar zu streicheln. Obwohl man selbst oft eine kranke Seele hatte. Die Seele war die Kraft, die alle Vorgänge verknüpfte und zusammenhielt.
Zunächst aber bescherten mir die kommenden Wochen und Monate alles, was man nur als junger Mensch mit dem ganzen Herzen empfinden kann: Liebe, Geborgenheit, eine Heimat im Herzen des liebsten Menschen, den es für mich gab.
Fast war ich etwas traurig darüber, dass Gisela womöglich nun öfter ohne mich unterwegs sein würde, doch beschloss ich auch gleichzeitig, mich an solchen Tagen mit Stella Henninger zu treffen. Sie hatte sich uns in der Schule gleich angeschlossen. Sie wohnte bei ihren Eltern in Radebeul, war sehr zurückhaltend und wohlerzogen. Sie sprach nie viel über ihr Zuhause, doch wenn sie einmal etwas erzählte, so spürte man
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