Als gaebe es kein Gestern
vorhin bei Karen vorbeigefahren“, sagte Arvin.
Livia sah ihn an. „Und?“
„Sie hat uns am Sonntag zum Mittagessen eingeladen. Uns beide.“
„Hast du ihr gesagt, dass wir uns jetzt besser verstehen?“
Arvin nickte. „Sie hat sich gefreut.“
Livia zog die Stirn in Falten. „Das klingt nicht so positiv, wie es klingen sollte.“
„Ich weiß auch nicht“, seufzte Arvin. „Sie ist so seltsam in letzter Zeit. Und sie sieht krank aus.“
Livia nickte. „Ja, das tut sie schon lange. Aber wenn ich sie darauf anspreche, weicht sie mir aus.“
„Mir auch.“
Sie gingen eine Zeit lang schweigend nebeneinander her. Livia fand, dass es heute wunderschön im Wald war. Zwischendurch brachen immer wieder die Strahlen der Junisonne durch das Blattwerk der Bäume und erhellten einzelne Flecken ihrer Umgebung. Gerade jetzt konnte sie den Staub sehen, der dicht und schwer in der Waldluft hing. „Glaubst du, wir sollten sie am Sonntag mal so richtig in die Mangel nehmen?“, fragte Livia, nachdem sie ein paar Minuten über Karen nachgedacht hatte.
Arvin zuckte die Achseln. „Das könnte dazu führen, dass sie sich noch mehr verschließt“, sagte er zögernd.
„In dem Punkt ähnelt ihr euch wohl …“, kommentierte Livia und dachte daran, dass sie mit Arvin noch kein einziges Mal über seine Vergangenheit gesprochen hatte. Sie hatte schon ein paarmal vorsichtig versucht, über seine Eltern zu reden, war aber gescheitert. Wie sollte sie unter diesen Umständen jemals mit ihm über den Unfall sprechen?
„Wie hat dir eigentlich das Buch gefallen, das du dir ausgesucht hast?“, wechselte Arvin das Thema.
Livia schluckte. Arvin las so viel. Das hatte sie schon immer beeindruckt. Um mithalten zu können, hatte sie sich irgendein Buch aus seiner Sammlung herausgepickt und darum gebeten, es lesen zu dürfen. Aber das hatte sie natürlich nicht getan. Sie fand einfach keinen Zugang zu Büchern! Für ein Kochrezept reichten ihre Fähigkeiten mittlerweile, aber für mehr … „Es war toll“, log sie. „Richtig toll.“
„Hast du’s denn schon durch?“
Livia nickte lahm. Sie hatte die ersten zwei Sätze schon durch …
„‚Schuld und Sühne‘ von Dostojewski …“, überlegte Arvin. „Wäre es nicht besser gewesen, du hättest die modernere Version gelesen? ‚Verbrechen und Strafe‘ heißt es, glaub ich …“
„‚Schuld und Sühne‘ war auch okay“, presste Livia hervor. „Was liest du denn im Moment?“
„Die Hauptperson hieß Raskolnikow, nicht wahr?“, versuchte sich Arvin zu erinnern. „Ich fand es wirklich schwierig, sein Menschenbild zu ergründen. Warte mal … wie war das noch? Hat er manche Menschengruppen nicht mit dem Begriff ‚Laus‘ belegt?“
„So war es wohl“, nuschelte Livia. „Hast du ’ne Idee, was ich als Nächstes lesen könnte?“
„Hat er eigentlich nur einen oder mehrere Morde begangen?“, überlegte Arvin.
„Ich hab’s gar nicht gelesen, okay“, fuhr Livia ihn an. „Ich hab’s nicht gelesen, weil ich allenfalls drei Sätze am Stück lesen kann. Mehr nicht. In Wirklichkeit hab ich mir das Buch nicht aus Interesse ausgeliehen, sondern nur um dich zu beeindrucken. Und wenn wir schon mal dabei sind: Ich bin nach meinem Unfall auf dem Stand eines Drittklässlers stehen geblieben. Bist du jetzt zufrieden?“
Arvin schwieg.
„Ich bin dumm“, sagte Livia leise. „Das ist die Wahrheit.“
„Niemand ist dumm“, widersprach Arvin. „Gott hat jedem Menschen besondere Fähigkeiten geschenkt. Und alle sind gleich wichtig. Der eine kann eben lesen, der andere handwerkern, der Dritte kochen oder malen oder musizieren. Was kannst du?“
„Mit meinem Arm überhaupt nichts“, erwiderte Livia bitter und ballte die rechte Hand zur Faust. Obwohl das klappte, merkte sie doch, dass ihr rechts immer noch nicht genügend Kraft zur Verfügung stand.
„Du kannst schöne Blumenbeete pflanzen“, sagte Arvin.
„Toll“, entfuhr es Livia. „Eine Fähigkeit, die in unserem Haus über alle Maßen geschätzt wird.“
Arvin musste schlucken. „Ich weiß, dass es nicht ganz einfach ist, mit mir zusammenzuleben“, sagte er heiser. „Aber wenn du Probleme mit dem Lesen hast, solltest du nicht mit Dostojewski anfangen, sondern zum Beispiel mit einem Gartenbuch. Vielleicht …“ Er zögerte. „Hinter dem Haus gibt es eine Ecke, die ich sowieso nie betrete … Da könntest du machen, was du willst.“
„Wirklich?“, fragte Livia atemlos. „Ich darf Blumen
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