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Als gaebe es kein Gestern

Als gaebe es kein Gestern

Titel: Als gaebe es kein Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kirsten Winkelmann
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sich nicht aufzählen. Man beobachtet und registriert.“
    „Ich bin aber nicht gut im Beobachten und Registrieren“, gab Arvin zurück. „Das solltest du von allen am besten wissen.“
    „Hört auf!“, fuhr Livia dazwischen. „Ihr könnt euch streiten, so viel ihr wollt. Aber das wird nichts daran ändern, dass es nichts gibt, was ich Arvin sagen könnte.“ Livias Stimme erinnerte mit jedem Wort stärker an ein Schluchzen. „Ich kenne mich nicht. Ich weiß nicht, wer ich bin.“ Sie schlug die Hände vors Gesicht. „Und wisst ihr was? Manchmal bin ich mir nicht mal sicher, ob es mich überhaupt gibt!“
    Auf diese Worte folgte eine tiefe, betretene Stille. Arvin und Karen sahen einander an und schienen nicht zu wissen, was sie sagen sollten. Schließlich hob Karen ihre linke Hand und strich damit sanft über Livias Haar.
    Wenig später erhob sich Arvin. „Das geht so nicht weiter“, murmelte er, ging zu einem der Küchenschränke und kramte einen Zettel und einen Stift daraus hervor. Mit beidem bewaffnet, kehrte er zum Tisch zurück. „Wir werden das ändern“, sagte er mit fester Stimme.
    Livia sah auf. Ihre Augen glänzten feucht.
    „Wir machen eine Aufstellung“, verkündete Arvin und schrieb das Wort „Livia“ in großen Lettern oben auf den schneeweißen Din-A4-Zettel. „Wenn Karen mithilft, kriegen wir bestimmt ’ne ganze Menge zusammen.“ Er unterstrich Livias Namen zweimal, setzte ab und schrieb ein Stück weiter unten und weiter links ein weiteres Wort auf, das er einmal unterstrich.
    Livia starrte interessiert auf das Blatt und las: „Hobbys“.
    „Blumen“, sagte Arvin und schrieb das entsprechende Wort darunter. „Du liebst es, Blumenbeete zu pflanzen – so viel weiß ich schon.“ Ein Stück tiefer schrieb er das Wort „Vorlieben“ und darunter „Musik“. „James Blunt“, seufzte er und schrieb auch das auf. Dann kam das Wort „Nahrungsmittel“. „Lachs auf Buttergemüse“, grinste Arvin. Er schrieb es auf.
    „Gummibärchen“, schlug Karen vor.
    „Stimmt!“, begeisterte sich Arvin. „Und Kaubonbons … und Traubenzuckerlollies … Jede Art von Zuckerzeug eben!“ Er schrieb das alles auf.
    „Anscheinend kennst du sie doch nicht so schlecht“, stellte Karen fest.
    „Meinst du wirklich? Ich weiß nicht … Livia kauft immer ein. Und wenn ich es mir recht überlege … na ja … kauft sie meistens Dinge, die ich gerne esse. Weintrauben zum Beispiel oder Lakritz. Oder magst du diese Dinge auch?“
    Bei dem Gedanken an Arvins fiese Lakritze lief es Livia eiskalt den Rücken herunter. Sie schüttelte heftig den Kopf.
    „Gehen wir chronologisch vor“, überlegte Arvin und begann, mit dem Kugelschreiber herumzuspielen. „Frühstück. Isst du lieber Brot oder Brötchen – aus Weiß- oder aus Vollkornmehl?“
    Livia zuckte die Achseln. „Keine Ahnung!“
    „Vollkornbrot“, sagte Karen streng.
    „Wir wollen nicht wissen, was gesund ist, sondern was sie mag “, tadelte Arvin. „Los jetzt, Livia, du darfst uns die Wahrheit sagen.“
    Livia hob hilflos die Hände. „Ich weiß es wirklich nicht“, seufzte sie. „Ich esse einfach, was da ist.“
    „Das stimmt doch nicht“, widersprach Karen. „Ich weiß zum Beispiel, dass du viel lieber exotische Marmeladen als Erdbeer- oder Kirschmarmelade isst. Und einmal hab ich dich dabei erwischt, dass du dir einen Toast mit Butter und Zucker gemacht hast.“ Sie schüttelte sich, als wäre das etwas Furchtbares. „Ach ja, und du trinkst gern Kaffee.“
    „Stimmt wohl …“
    „Ja, achtest du denn nicht auf das, was du magst?“, wunderte sich Arvin.
    Livia runzelte die Stirn. In der Tat hatte sie sich noch nie sehr viel mit sich selbst beschäftigt. „Sollte ich das denn?“
    „Aber ja“, antwortete Arvin. „Wenn man sich selbst nicht kennt, kann man auch nicht so leben, wie man programmiert wurde. Man kann seine Begabungen nicht ausnutzen, seine Begrenzungen nicht respektieren und nicht gut zu sich sein.“
    „Wer sagt denn, dass man ‚gut zu sich sein soll‘?“, fragte Livia.
    „Wer … wer das sagt?“, stammelte Arvin. „Keine Ahnung. Gott wahrscheinlich.“
    „Gott?“, wiederholte Livia skeptisch.
    „Ich denke schon …“ Arvin überlegte einen Moment. „Auf jeden Fall hat er jeden Menschen als Individuum erschaffen, als Einzelanfertigung mit Stärken, Schwächen, Vorlieben und Abneigungen. Welchen Sinn hätte es, wenn der Mensch anschließend kein Recht hätte, nach dem aufgespielten Programm zu

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