Als gaebe es kein Gestern
„‚oberflächlich‘ ist ein negatives Wort. Aber ich weiß nicht, wie ich es sonst beschreiben soll. Sie hat fröhlich in den Tag hineingelebt, sie hat sich genommen, was sie haben wollte, und das Leben ausgekostet. Aber du …“ Er sah wieder zu Livia hinüber und hob hilflos die Hände.
„Leid verändert den Menschen“, warf Karen ein.
„Ich werde aufschreiben, dass du ein Mensch bist, der seine Illusionen verloren hat.“ Arvin sah Livia ins Gesicht. „Ich weiß bloß nicht, wo.“ Eine halbe Ewigkeit hingen seine Worte wie eine Frage im Raum. Aber es gab keine Antwort. Livia wusste sie am allerwenigsten. Aber schon die Frage allein führte tief in ihr Herz. Wie war es möglich, dass Arvin – ausgerechnet Arvin – sie entdeckt hatte?
Kapitel 28
Es wurde ein wirklich schöner Sonntag. Nach dem Essen unternahmen Karen, Vanessa, Arvin, Livia und Spike – der während der Mahlzeit im Auto geblieben war – einen ausgiebigen Spaziergang zu einem wunderschönen Waldspielplatz. Hier gab es eine Riesenrutsche, einen Wasserlauf, allerhand Schaukeln und vor allem eine Seilbahn.
Dass es bedeckt und stürmisch war, merkte man hier nicht. Die Bäume boten Schutz vor dem Wind und das Fehlen der Sonne machte im schattigen Wald kaum einen Unterschied. Dafür hatte das schlechte Wetter einen entscheidenden Vorteil: Außer den Scholls hatten sich nur einige wenige Leute auf den Waldspielplatz verirrt, sodass Vanessa ohne Pause ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgehen konnte: dem Seilbahnfahren. Und so war Arvin ununterbrochen damit beschäftigt, den Sitz wieder heraufzuholen und Vanessa damit unter Juchzen und Kreischen auf die Reise zu schicken. Dass er die erste Zeit damit zubringen würde, hatte Livia erwartet, aber als er zwei Stunden lang nichts anderes gemacht hatte, war sie allmählich doch beeindruckt. Spaß konnte ihm das doch jetzt nicht mehr machen, oder? Trotzdem blieb er fröhlich, lachte und scherzte mit Vanessa und holte sie wieder, wieder und wieder nach oben.
„Ist er immer so?“, fragte Livia irgendwann. Sie saß mit Karen auf einer Bank, trank den Kaffee, den sie mitgenommen hatten, und konnte sich nicht sattsehen an Vanessas kindlicher Begeisterung.
„Bei Vanessa schon.“
„Immer?“, fragte Livia ungläubig.
„Ich hab dir doch gesagt, dass er ein wundervoller Mensch ist“, lächelte Karen.
„Hm“, machte Livia und schwieg eine Weile. Ganz in ihrer Nähe setzte sich eine kleine Amsel auf einen Balken und begann sich zu putzen. „Hat er noch mehr Qualitäten?“, setzte sie das Gespräch schließlich fort.
Karens Lächeln verbreiterte sich. „Dass er gut zuhören kann, hast du schon bemerkt, glaube ich. Außerdem ist er ehrlich, direkt, zuverlässig, humorvoll …“
„Was noch?“, fragte Livia begierig.
„Na ja … er ist … ein wandelnder Taschenrechner.“
„Ein was?
„Er ist ein Rechengenie. Geh mit ihm in einen Supermarkt, und du kennst die Rechnung, bevor ihr zur Kasse kommt.“
„Wirklich?“, amüsierte sich Livia.
Karen nickte. „Wenn er Zahlen sieht, muss er sie zusammenzählen. Ich glaube, es ist wie ein Zwang. Er kann einfach nicht anders.“
„Und seine Schattenseiten?“, fragte Livia.
„Ich weiß nicht … Na ja … er kann überhaupt nicht kochen. Was bedeutet, dass er sich vor seiner Ehe im Wesentlichen von Dosenfutter ernährt hat.“
„Und weiter?“
„Keine Ahnung“, wiegelte Karen ab. „Ich rede nicht gern über seine Schattenseiten, außerdem kennst du sie besser als ich …“
„Er ist sehr nachtragend“, setzte Livia die Aufzählung nun selbst fort. „Wenn man sich’s mit ihm verscherzt, kommt man so schnell nicht wieder auf einen grünen Zweig.“
„Eigentlich nie mehr“, sinnierte Karen. „Du bist da die rühmliche Ausnahme. Wirklich, ich hätte nie gedacht, dass du das Steuer noch mal rumreißt!“
„Und dann ist da noch seine Abneigung gegen jede Art von Veränderung“, sagte Livia und beobachtete, wie sich Arvin total erschöpft in den nächstgelegenen Sandhaufen fallen ließ. Vanessa nutzte die Gelegenheit und begann, auf ihm herumzuturnen. „Das bedeutet wohl, dass er total festgefahren ist, oder?“
Karen zuckte die Achseln. „Man kann jede Charaktereigenschaft positiv oder negativ formulieren. Wenn Arvin jemanden liebt, tut er das bis ins Grab. Würdest du so etwas ‚festgefahren‘ nennen oder eher ‚treu‘?“
„Willst du damit sagen, dass es positiv ist, wenn man nach hundert Jahren immer noch die
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