Als gaebe es kein Gestern
sich und riskierte wieder einen vorsichtigen Blick. „Was gesagt?“
„Dass ich einen Jan erwähnt hätte. Damals, im Krankenhaus.“
„In welchem Zusammenhang?“
„Keine Ahnung. Ich weiß nicht mehr.“
„Das ist aber wichtig“, fuhr Arvin sie an.
Livia zog die Stirn in Falten. „Warum?“
„Na, weil … weil es vielleicht ein Zugang zu deiner Vergangenheit ist!“
„Vielleicht will ich überhaupt keinen Zugang zu meiner Vergangenheit“, sagte Livia leise.
„Warum nicht?“
Livia atmete einmal tief durch und sah Arvin in die Augen. „Sag mir eine Sache aus meiner Vergangenheit, nur eine , die du zurückhaben willst.“
Arvin schluckte … und schwieg.
Livia war plötzlich kalt. Sie hatte nicht vorausgesehen, wie sehr sie dieses Schweigen treffen würde. „Eine wird es doch geben, oder?“, hörte sie sich fragen.
Arvins Gesicht wurde von Bedauern überflutet, doch sagte er auch jetzt kein einziges Wort.
„Eine einzige“, flehte Livia mit dünner Stimme.
Arvin sah zu Boden.
In Livias Augen traten Tränen. „Ich muss furchtbar gewesen sein“, sagte sie mit einer verzweifelten Handbewegung, „einfach nur furchtbar.“
Arvin sah sie wieder an. „Wenn du furchtbar gewesen wärst, hätte ich mich nicht in dich verliebt“, presste er hervor. „Du warst … quirlig, lebendig und … unglaublich schön!“
Unglücklicherweise schien er damit genau das Falsche gesagt zu haben. Livias Gesicht verfinsterte sich, als hätte sich eben eine Wolke vor die Sonne geschoben.
„Was ist?“, fragte Arvin erschrocken.
„Ich war hübsch“, krächzte Livia und bekam endlich mit, wie ihr Spike zum wiederholten Mal gegen den Oberschenkel stupste. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass er einen Stock im Maul hatte. „Das hast du treffend formuliert.“
„Du warst es und du bist es immer noch.“
„Lüg mich nicht an“, fauchte Livia, griff nach dem Stock in Spikes Maul und schleuderte ihn voller Wut in den Wald hinein. Spike hetzte umgehend hinterher und brach dabei krachend durchs Unterholz. „Ich bin längst nicht mehr so hübsch wie früher. Ich hab das Bild gesehen.“
„Welches Bild?“
„Das von unserer Hochzeit. Ich war bei Frau Schneider. Und glaub mir, ich hab mich nicht wiedererkannt.“
„Du warst bei Tante Ella?“, staunte Arvin. „Und du hast die Hochzeitsfotos gesehen?“
„Irgendjemand musste mir ja meine Fragen beantworten …“, knurrte Livia.
Arvin atmete einmal tief durch. Dann sagte er mit fester Stimme: „Das klären wir jetzt. Komm mit!“ Und mit diesen Worten nahm er ihre Hand und zog sie energisch in die Richtung, die nach Hause führte. Livia stolperte hinter ihm her und wusste nicht recht, wie ihr geschah. Die Hand, die in Arvins ruhte – zum ersten Mal in Arvins Hand ruhte –, war ihre Rechte und hatte sich noch nie so gut durchblutet angefühlt wie jetzt …
Arvin pfiff jetzt einmal kurz und stellte dadurch sicher, dass Spike ihnen folgte.
Als sie bald darauf zu Hause ankamen, konnte sich Livia nicht mehr erinnern, welchen Weg sie genommen hatten oder wie lange sie unterwegs gewesen waren. All ihre Gedanken waren auf die Frage gerichtet, was genau Arvin jetzt zu klären gedachte …
„Ich hole was“, verkündete er, kaum dass er die Haustür aufgeschlossen hatte. „Setz dich einfach ins Wohnzimmer und mach’s dir bequem.“
Livia sah ihm mit hochgezogenen Brauen hinterher und stellte fest, dass er in seinem Schlafzimmer verschwand. Dann streifte sie mit klopfendem Herzen die Schuhe von den Füßen, zog ihre Jacke aus und begab sich mit Spike ins Wohnzimmer.
Sie musste nicht lange auf Arvin warten. Als er kam, umgab ihn eine Aura fröhlicher Ungeduld. Er hatte eine Holzschachtel bei sich, die mit pastellfarbenen Blumen bemalt und ganz offensichtlich schon recht alt war. Er setzte sich neben Livia aufs Sofa, vergaß dieses Mal sogar, den Sicherheitsabstand einzuhalten, und sagte lächelnd: „Ich öffne sie nur, wenn du versprichst, nicht auf mich loszugehen.“
Livia sah fragend zu ihm auf und stellte fest, dass er unheimlich attraktiv aussah, wenn etwas ihn so sehr vereinnahmte wie das hier. Das Leuchten seiner Augen schien seine gesamte Erscheinung zu erhellen.
„Na, weil ich sie dir nicht früher gezeigt habe“, sagte Arvin.
Sie?
Die unausgesprochene Frage beantwortete sich wie von selbst, als Arvin den Deckel anhob und ein Haufen Fotos darunter zum Vorschein kam.
Livia sog scharf die Luft ein und griff begierig in den Stapel.
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