Als gaebe es kein Gestern
wird demnächst entlassen“, erwiderte Karen leise. Auch Arvin hatte sie es schonender beibringen wollen. Aber ihre Kräfte waren nun mal verbraucht.
„Entlassen? Aber … wieso? Ich meine … kommt sie nicht in irgendeine Reha oder so?“
„Sie hat die Rehamaßnahmen schon im Krankenhaus mitgemacht, Arvin. Wenn du sie in letzter Zeit mal besucht hättest, wüsstest du das.“
Arvin schwieg. Er war ehrlich geschockt.
Während beide so dasaßen, schlug die Standuhr, die einmal Arvins und Karens Eltern gehört hatte, vier Mal. Es war ein voller, durchdringender Klang. „Du müsstest nicht viel tun, Arvin“, begann sie müde. „Du müsstest ihr nur erlauben, bei dir zu wohnen. Alles andere würde ich regeln … den Papierkram und alles …“
Arvin schluckte schwer. „Kann …“ – er musste sich räuspern, um ein halbwegs verständliches Wort herauszubringen – „kann sie denn nicht allein leben?“
Karen sah ihren Bruder prüfend an. „Sie will es natürlich nicht … und ich hab auch nicht versucht, sie dazu zu überreden …“ Sie zögerte einen Moment. „Arvin“, setzte sie neu an, „glaubst du denn, dass du dir das überhaupt finanziell leisten könntest?“
„Leisten? Du meinst …“ Jetzt war es Arvin, der erst einmal nachdenken musste. Er stand auf und durchwanderte unruhig das Wohnzimmer. Vor der Uhr aus dunklem Eichenholz blieb er stehen und murmelte: „Sie ist meine Frau. Ich bin unterhaltspflichtig …“ Er fuhr mit dem Finger auf den geschnitzten Blättern entlang, die das Ziffernblatt umgaben. Irgendwann fielen seine Hände einfach so herunter. „Mist“, brach es aus ihm hervor, „sie hat mich in der Hand! Dieses kleine Luder hat mich in der Hand!“
Karen erschrak. „Bist du verrückt? Livia ist nicht so … nicht mehr jedenfalls. Sie kann sich an nichts erinnern, bitte vergiss das nicht.“
„Das behauptest du …“, sagte Arvin finster.
„Arvin …“ Karen war sprachlos.
„Sieh mich nicht so an!“, fauchte Arvin. „Ich bin nicht so naiv wie du. Menschen ändern sich nicht. Jedenfalls nicht grundlegend. Das Herz bleibt dasselbe. Glaub mir, sie wird ihr wahres Ich schon noch offenbaren!“
Karen sagte nichts dazu. Sie konnte Arvin ja verstehen … Trotzdem kannte er Livia nicht so, wie sie sie kennengelernt hatte. Sie war anders! „Was ist nun?“, wagte sie nach einer Weile zu fragen. „Kannst du ihr eine Wohnung finanzieren?“
Arvin sah seine Schwester an und schüttelte bitter den Kopf. „Im Moment … keine Chance.“
Karen fummelte in ihren Haaren herum, formte einen Pferdeschwanz und ließ ihn wieder fallen. Dann seufzte sie tief. „Es ist unser Elternhaus. Ich … ich könnte es nicht ertragen, wenn es verkauft werden müsste.“
„Ich auch nicht“, hauchte Arvin und wurde weiß wie die Wand. „Oh Mann!“
❧
Die Gespräche mit Livia waren nicht viel besser. Obwohl sie irgendwann auch offiziell über ihre bevorstehende Entlassung informiert wurde, konnte sie sich mit dem Gedanken, bei Arvin einzuziehen, einfach nicht anfreunden.
Wenige Wochen vor ihrer Entlassung besuchte sie mit Karen einen Supermarkt. Das gehörte zu den vielen Aktionen, die Karen durchführte, um Livia wieder auf das normale Leben vorzubereiten. Unglücklicherweise fühlte sich Livia in Menschenansammlungen nicht sehr wohl. Sie hatte mit Schweißausbrüchen und Angstzuständen zu kämpfen.
„Also los“, forderte Karen sie auf. „Stell dir vor, du hättest eine eigene Wohnung und müsstest einkaufen. Was würdest du aus dem Regal nehmen?“
„Ich hab aber keine eigene Wohnung“, sagte Livia und hielt sich krampfhaft an der Stange des Einkaufswagens fest.
Aber Karen kannte kein Erbarmen. „Wir gehen systematisch vor“, lautete ihr Vorschlag. „Du musst morgens frühstücken. Was brauchst du?“
„Ich werde bei dir wohnen … und du gehst für mich einkaufen“, flüsterte Livia und verdrehte die Augen. Das grelle Licht des Supermarktes rief ein Schwindelgefühl bei ihr hervor.
„Du wirst bei Arvin wohnen, und der ernährt sich nur von Fast Food. Wenn du nicht einkaufen kannst, musst du verhungern“, sagte Karen streng. „Also sprich: Was möchtest du zum Frühstück?“
„Schokolade“, krächzte Livia.
Karen seufzte tief. Livia war süchtig nach jeder Art von Süßigkeiten. Ein weiterer Grund, warum sie keinesfalls allein leben konnte. „Brot“, widersprach sie. „Such es bitte.“
Livia schluckte und sah sich um. Die Menge von Produkten erschlug
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