Als gaebe es kein Gestern
…“
„Inwiefern versorgt?“
„Na, mit Nahrung und Kleidung … und … und …“
Livia dachte plötzlich an Arvin. Er war auch mal der Ansicht gewesen, dass Nahrung und Kleidung ausreichten. „Und?“, hakte Livia nach.
Inges Blick verfinsterte sich so plötzlich, als hätte jemand das Licht ausgeknipst. „Jetzt reicht es mir aber“, fauchte sie. „Du … du befragst mich, als wäre ich vor Gericht. Aber das habe ich nicht nötig!“ Sie rappelte sich hoch, hob ihren Zeigefinger und fuchtelte damit vor Livia herum. „Ich bin deine Mutter. Ich habe dich großgezogen. Und ich hab dich hier aufgenommen, obwohl ich nicht mal genau weiß, ob du wirklich meine Tochter bist!“
Inges Worte hallten durch den Raum und schienen alles zu verschlingen, was sich ihnen in den Weg stellen wollte. Auf diese Worte gab es keine Erwiderung, es konnte keine geben.
Livia starrte ihre Mutter nur voller Entgeisterung mit weit aufgerissenen Augen an.
Die gleichen Zweifel … doch ohne Fragen … ohne sich um Antworten zu bemühen …
Nichts.
Als wäre es ohne Bedeutung …
❧
Livia stand vor dem Spiegel und starrte sich an. Sie trug das Kleid. Aber sie wusste nicht, warum.
Die Frau im Spiegel war ein Niemand. Keine Livia. Keine Angelika. Niemand. Kein bekanntes Gesicht. Nicht einmal in diesem Kleid.
Dabei sah es gar nicht schlecht aus. Die zurückhaltende Farbe, die Corsage, die so verspielt wirkte und gleichzeitig Livias gute Figur betonte, dazu die weibliche Länge … All das verlieh Livia einen Hauch von Stil und Exklusivität.
Aber obwohl sie das erkannte, konnte sie sich heute nicht darüber freuen. Im Gegenteil, sie verspürte sogar so etwas wie Aggressionen gegen das Kleid. Im Grunde fühlte sie sich, als steckte sie in einer Rolle Geschenkpapier!
Trotzdem hatte sie es an. Wegen Henning. Oder besser gesagt: wegen der verschwindend geringen Möglichkeit, dass dieser Henning die Antwort auf all ihre Fragen war.
Ein Verlobter. Nicht die Familie, in die sie hineingeboren worden war. Nicht ein Mensch, mit dem sie zusammengewürfelt worden war, sondern ein Mensch, den sie erwählt hatte, ausgesucht, um ihr Leben mit ihm zu verbringen. Er musste es doch sein, oder nicht? Er musste das Ziel ihrer Sehnsucht sein, der Mensch, der ihren Zettel zu Ende schreiben konnte …
Das Kleid hatte eine Tasche. Eine einzige nur, aber sie hatte ihn längst hineingestopft, den Zettel, der ihr so wichtig war, den Zettel, der immer noch ihr einziger Zugang zu ihrem Selbst darstellte …
Mit einem abgrundtiefen Seufzer tastete sie nach der Beule, die er in dem sonst so makellosen Kleid hervorrief, versuchte sie glatt zu streichen, fühlte, wie er knisterte …
„Angelika!“ Das war die Stimme ihrer Mutter, die mit unverhohlener Begeisterung von unten nach oben brüllte.
Livia schluckte. Dann war er wohl da …
Sie riss sich von ihrem Spiegelbild los, verließ das Schlafzimmer ihrer Eltern und ging langsam zur Treppe. Ihr Herz schlug inzwischen so laut, als wollte es ihr aus der Brust hüpfen. Wenn auch er eine Enttäuschung war …
„Bitte lass ihn keine Enttäuschung sein“, flüsterte sie und wunderte sich selbst darüber, dass sie nach langer Zeit mal wieder ein Gebet gesprochen hatte. Arvins Einfluss ließ sich eben doch nicht leugnen … Oder war es der Einfluss ihrer Vergangenheit? Hier im Haus gab es viele alte Holzschnitzereien mit Bibelversen. Außerdem hatte ihre Mutter bereits angekündigt, dass sie am Sonntag zur Kirche gehen würden. Aber ansonsten deutete eigentlich nicht sehr viel darauf hin, dass ihre Eltern gläubig waren.
„Nun beeil dich doch“, rief Inge von unten. Ihre Stimme zitterte vor Aufregung.
„Ich komme ja“, gab Livia zurück und versuchte, ihre zitternden Knie unter Kontrolle zu behalten. Langsam und vorsichtig bewältigte sie eine der schmalen und steilen Treppenstufen nach der anderen.
Sie hatte jetzt den Fuß der Treppe erreicht, wandte sich nach links und hörte bereits eine ihr unbekannte Stimme. Sie klang sympathisch …
Ihr Herz tat einen Sprung, und sie beschleunigte ihren Gang, durchquerte den Flur, öffnete die Tür zur Diele …
Als sie im Türrahmen erschien, verstummten von einer Sekunde auf die nächste sämtliche Gespräche.
Alles – einschließlich Livia – hielt den Atem an.
Er war groß und gut aussehend. Blond. Kräftig gebaut, fast so wie Arvin …
Und er sah sie an. Aus großen blauen, interessierten Augen …
Inge und Dieter hingegen starrten auf
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