Als gaebe es kein Gestern
Strudel.
Einen Moment lang blieb sie dort stehen. Dann ging sie in den Flur und öffnete die Haustür. Wenn sie allerdings angenommen hatte, dass sich Arvins Ankunft auf diese Weise beschleunigen ließ, hatte sie sich getäuscht. Um zwanzig nach zehn stand sie noch immer abwartend auf dem Flur, ohne dass ein Auto vorfuhr.
„Das ist ein schlechtes Zeichen“, sagte sie und fröstelte plötzlich. Arvin kam eigentlich nie nach zehn Uhr. Wenn er es heute tat, sprach das nicht gerade für die erhoffte Begeisterung.
Also gut, er wollte diese Einladung nicht. Vielleicht kam er sogar mit Absicht später nach Hause. Aber das hieß noch lange nicht, dass sie sich ins Bockshorn würde jagen lassen!
Livia kehrte in die Küche zurück, schaltete den Ofen auf ganz kleine Stufe und stellte den Strudel zum Warmhalten hinein. Dann setzte sie sich abwartend an den Tisch. Eine Weile trommelte sie mit den Fingern auf der Tischplatte herum, lauschte dem lauten Knurren ihres Magens und malte sich aus, was sie Arvin gleich an den Kopf werfen würde.
Die Minuten vergingen und Livias Energien schwanden. Ihre Augen wurden kleiner. Sie hatte vor lauter Hunger ein flaues Gefühl im Magen. Und die Verletzung an ihrer Hand pochte, wie sie es an diesem Tag noch kein einziges Mal erlebt hatte.
Es wurde halb elf … elf … halb zwölf.
Allmählich begriff Livia, dass Arvin nicht mehr kommen würde.
Allerdings fehlte ihr die Kraft, sich darüber aufzuregen.
Der Gedanke, dass sie allein ein Stück Strudel essen könnte, huschte durch ihre Gedanken, fand aber keinen Widerhall mehr. Sie schaltete nur noch den Backofen aus und verkrümelte sich in ihr Bett.
❧
Sie erwachte von einem Geräusch, das sie erst nach sehr, sehr langer Zeit als das Klingeln des Telefones identifizierte. Aber sie hatte ohnehin keine Kraft aufzustehen. Obwohl es gleißend hell in ihrem Zimmer war, hingen ihre Gedanken am letzten Abend fest.
Arvin hatte sie versetzt. Er hatte es wirklich getan! Es war unglaublich.
Oder nein, war es nicht! Sie hätte es vorhersehen müssen. Wenn diese Ehe gescheitert war, dann musste das ja einen Grund haben, und dieser Grund war Arvin. Er war ein gefühlloser Idiot, jawohl! So eine Eigenschaft entwickelte sich nicht von heute auf morgen. Nein, sicher nicht. Sie war unter Garantie von Anfang an da gewesen und der Grund für ihre schlechte Ehe. Warum war sie nicht früher darauf gekommen? Alles passte doch zusammen. Karens Warnungen … Sie ließ Karens Worte noch einmal Revue passieren: Arvin
kann sehr stur sein. Arvin lieben? Einfach so? Nein, keine Chance.
Wie dumm war sie gewesen! Wie naiv!
Aber damit war es jetzt vorbei. Jetzt würde er sie kennenlernen. Ja, das würde er!
Sie schlug ruckartig die Decke zurück und sprang aus dem Bett, musste sich aber schon im nächsten Moment wieder hinsetzen. Ihre Umgebung drehte sich und die Zimmerdecke kam auf sie zu.
Eine ganze Weile blieb sie mit geschlossenen Augen auf dem Bett sitzen, erst dann hatte sich ihr Gleichgewichtssinn so weit beruhigt, dass sie langsam wieder aufstehen konnte.
Noch mit dem Schlafanzug bekleidet, führte ihr erster Weg auf den Flur und von dort zur Haustür. Ein einziger Blick nach draußen verschaffte ihr Gewissheit. Arvin war noch immer nicht zu Hause. Er war die ganze Nacht über weggeblieben!
Das Telefon begann erneut zu klingeln.
Livias Augen verdunkelten sich. Wenn das Arvin war …
Mit zackigen, fast militärischen Schritten steuerte sie auf das Wohnzimmer und dort direkt auf das Telefon zu. „Ja?“
„Ich bin’s, Karen. Ich wollte nur wissen, wie es gelaufen ist …“
Livia antwortete nicht gleich. Sie brauchte einen Moment, um ihre Anspannung unter Kontrolle zu bekommen. „Ach du“, sagte sie enttäuscht. Wie gern hätte sie jetzt Arvin in die Finger gekriegt …
„Das klingt nicht gut“, erkannte Karen. „Hat er deine Einladung ausgeschlagen?“
„Er ist gar nicht erst nach Hause gekommen“, antwortete Livia und starrte gedankenverloren auf ihre rechte Hand. Sie tat immer noch weh. Und der notdürftige Verband, den sie gestern angelegt hatte, war total schmuddelig. Kein Wunder, nach all der Arbeit …
„Oh, das tut mir leid. Hast du den Strudel allein gegessen?“
„Nein“, knurrte Livia. „Und ich habe es auch nicht vor. Abgesehen davon bin ich noch im Schlafanzug. Kann ich dich später zurückrufen?“
„S-sicher“, stammelte Karen noch, dann hatte Livia auch schon aufgelegt. Sie hatte jetzt wirklich keine Lust auf
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