Als gaebe es kein Gestern
Karens Mitleidsbekundungen. Ihr war eher nach Rache zumute!
Rache, genau …
Livias Augen verengten sich zu drohenden Schlitzen. Was Arvin konnte, das konnte sie schon lange …
Kapitel 13
Als Livia abends um exakt einundzwanzig Uhr dreiundvierzig Arvins Wagen vorfahren hörte, bildete sich ein zufriedenes Grinsen auf ihrem Gesicht.
„Hundert“, flüsterte sie, „neunundneunzig, achtundneunzig, siebenundneunzig …“
Sie saß in ihrem Zimmer auf dem Bett und hatte es sich gemütlich gemacht. Das Deckenlicht war ausgeschaltet, nur ihre Nachttischlampe war noch an. Vor ihr auf der Bettdecke lag das Buch, das Karen ihr mitgebracht hatte. Obwohl sie noch keine einzige Zeile daraus gelesen hatte, steckte das Lesezeichen so ziemlich in der Mitte.
„Zweiundneunzig, einundneunzig, neunzig …“
Sie zählte langsam und sehr bedächtig. Zwischendurch nahm sie einen Schluck aus der dampfenden Tasse Tee, die neben ihr auf dem Nachttisch stand.
„Fünfundachtzig, vierundachtzig, dreiundachtzig, zweiundachtzig …“
Sie hörte die Autotür zuknallen.
„Dreiundsiebzig, zweiundsiebzig, einundsiebzig …“
Sie hörte, wie Arvin die Haustür öffnete und den Flur betrat.
„Sechsundsechzig, fünfundsechzig …“
Obwohl es so aussah, als ob Livia jeden Moment schlafen gehen würde, trug sie keinen Schlafanzug. Stattdessen hatte sie eine hellblaue Bluse mit einer Blumenstickerei an …
„Achtundfünfzig, siebenundfünfzig, sechsundfünfzig …“
An seinen Schritten konnte sie erkennen, dass er sich in Richtung Wohnzimmer bewegte.
„Zweiundvierzig, einundvierzig, vierzig, neununddreißig …“
Ihre Anspannung wuchs. Jedenfalls rieb sie energisch über die Stelle auf ihrer Stirn, an der sie kein Gefühl mehr hatte.
„Vierunddreißig, dreiunddreißig …“
Livias Atem ging schneller.
„Achtundzwanzig, siebenundzwanzig, sechsundzwanzig …“
Ohne es zu wollen starrte Livia ängstlich auf ihre Zimmertür. Was tat sie eigentlich hier? Sie kannte diesen Mann doch überhaupt nicht. Sie hatte letzten Endes keine Ahnung, wozu er fähig war!
„Neunzehn, achtzehn, siebzehn …“
Stampfende Schritte näherten sich und sorgten dafür, dass Livia die Zahlen im Halse stecken blieben. Sie griff mit zitternden Händen nach ihrem Buch, öffnete es da, wo sich das Lesezeichen befand, und tat so, als wäre sie ins Lesen vertieft.
Die Tür schwang auf.
„Wie kannst du es wagen?“, polterte Arvin los.
Aus dem Augenwinkel kam er ihr vor wie ein riesiges dunkles Monster, doch zwang sie sich, ihn keines Blickes zu würdigen. Sie las einfach weiter.
„Wir hatten eine Abmachung“, röhrte Arvin. Seine Stimme schien den ganzen Raum in Schwingungen zu versetzen.
Jetzt endlich hob Livia ihren Blick. Der arrogante Gesichtsausdruck, den sie stundenlang vor dem Spiegel geübt hatte, kam jedoch nicht zustande. „Hatten wir?“, gelang es ihr zu fragen.
„Du hast in diesem Haus nichts zu verändern“, bellte ihr Ehemann. Er war außer sich vor Wut. Außerdem saß seine Brille schief auf der Nase …
„Das war dein Wunsch “, antwortete Livia, „ebenso wie es mein Wunsch war, einen Abend mit dir zu verbringen. Es scheint dir jedoch lieber zu sein, meine Wünsche zu ignorieren. Das ist kein Problem. Nur musst du dich nicht wundern, wenn ich mir die gleichen Freiheiten nehme.“ Immerhin , dachte Livia, hab ich meinen Text hingekriegt .
Arvin öffnete kurz den Mund, schloss ihn dann aber wieder. Einen Moment lang verlagerte er sein Gewicht von einem Bein auf das andere, dann sagte er: „Du willst also Krieg …“
„ Du willst Krieg“, gab Livia zurück. „ Ich wollte mit dir zu Abend essen.“
„Ich aber nicht mit dir“, erwiderte Arvin. Seine Stimme klirrte vor Kälte. „Ich esse, wann ich will und mit wem ich will. Und glaub mir: Du gehörst nicht zum ausgewählten Personenkreis.“
Livia schluckte ein paarmal gegen die bodenlose Enttäuschung an, die seine Worte bei ihr auslösten. Fast hätte sie losgeheult. Aber dann gewann ihre Wut die Oberhand. „Das ist schade“, fauchte sie. „Vor allem weil wir nun mal verheiratet sind –“
„Waren“, fiel Arvin ihr ins Wort. „Waren!“
Livia verstummte. Das eine Wort hatte so abwehrend, so … panisch geklungen … Da war nichts mehr von der Gleichgültigkeit, die er sonst an den Tag legte. Livia versuchte in seinem Gesicht zu lesen, aber sie kannte ihn einfach zu wenig … „Ich kann mich an nichts erinnern, Arvin“, sagte sie hilflos.
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