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Als Gott ein Kaninchen war

Als Gott ein Kaninchen war

Titel: Als Gott ein Kaninchen war Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Winman
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den steinernen Wänden des Raums gedämpft, aber die schweren Bassnoten hallten in meinem Körper wider, prallten an meinen Rippen ab, bevor sie weiter in mein Becken brausten.
    » Das wird der Sarg sein«, sagte Jenny Penny. » Komm, lass uns einen Blick drauf werfen, das ist echt cool.« Wir öffneten die Tür und erhaschten einen Blick auf die kleine Prozession, die an uns vorbeizog.
    Wir saßen draußen auf einer Mauer und warteten. Die Wolken hingen ziemlich tief– nur eine Armlänge über der Kirchturmspitze– und sanken immer weiter. Wir lauschten dem Gesang. Zwei Lieder, freudige, hoffnungsvolle Lieder. Wir kannten sie, aber wir stimmten nicht mit ein. Wir ließen unsere Beine baumeln und wussten nichts zu sagen. Jenny Penny griff nach meiner Hand. Ihre Handfläche war glitschig. Ich konnte sie nicht ansehen. Unsere Scham und unsere Tränen galten nicht uns gegenseitig. An jenem Tag galten sie jemand anderem.
    » Ihr zwei seid so langweilig«, sagte Mrs Penny, als wir später in der Wimpy Bar saßen und versuchten, Mittag zu essen.
    Sie sah erfrischt aus und gestärkt, und kein Zeichen der morgendlichen Ereignisse war ihrem zuvor noch trauernden Gesicht anzusehen. Normalerweise wäre ich entzückt gewesen über all die Gerichte, die ich sonst selten zu essen bekam, aber ich schaffte nicht einmal meinen Hamburger oder meine Portion Pommes oder meinen Becher Cola, der so groß war wie ein Stiefel. Mein Appetit, zusammen mit dem aufs Leben, war vorübergehend verflogen.
    » Ich bin heute Abend nicht zu Hause, Jenpen«, sagte Mrs Penny. » Gary hat gesagt, er passt auf dich auf.«
    Jenny Penny blickte auf und nickte.
    » Ich werde Spaß haben! Spaß! Spaß! Spaß!«, sagte Mrs Penny, und ihr Mund verschlang ein Viertel des Brötchens und hinterließ am Rest eine Spur Lippenstift, die mit dem Ketchup konkurrierte. » Ich wette, ihr Mädchen könnt es kaum erwarten, erwachsen zu werden, hä?«
    Ich sah Jenny Penny an. Sah die Gurkenscheibe auf ihrem Tellerrand. Sah hinunter auf die Tischfläche. Sah alles an, nur nicht sie.
    Den ganzen Abend über verfolgte mich das Bild des winzigen, weißen Sarges, nicht einmal zwei Fuß lang. Er war geschmückt mit rosa Rosen und einem Teddybären; wurde getragen von schützenden Armen wie ein Neugeborenes. Ich habe meiner Mutter nie erzählt, wo ich an jenem Tag war, auch nicht meinem Vater; nur mein Bruder erfuhr von diesem merkwürdigen Tag, dem Tag, an dem mir klar wurde, dass sogar Babys sterben konnten.
    Warum waren wir dort? Warum war Mrs Penny dort? Irgendetwas Unnatürliches hielt ihre Welt zusammen, aber damals konnte ich dieses Gefühl noch nicht in Worte fassen. Mein Bruder meinte, es sei womöglich lang angestauter Kummer. Enttäuschung. Bedauern. Ich war zu jung, um ihm zu widersprechen. Oder um es vollends zu verstehen.

In einer U-Bahn, die gerade aus der West Ham Station fuhr, war eine Bombe explodiert. Mein Vater hatte seine Arbeit früher verlassen und war in diesem Zug, als es passierte. Das teilte er uns während des kurzen Anrufs mit, den er machte, um uns zu sagen, dass es ihm gut gehe, dass er wirklich in Ordnung sei und wir uns keine Sorgen zu machen brauchten. Und als er an diesem Montagabend im März durch die Tür trat, mit Blumen für seine Frau und verfrühten Ostereiern für seine Kinder, war sein Anzug noch voll von Staub und dem Schmutz des Waggonbodens. Ein merkwürdiger Geruch umgab ihn– ein Geruch, der irgendwo zwischen abgebrannten Streichhölzern und versengten Haaren lag–, und ein Tropfen getrockneten Blutes hing in seinem Mundwinkel. Vor lauter Schock hatte er sich auf die Zunge gebissen. Doch nachdem er sich vergewissert hatte, dass sie wie durch ein Wunder noch ganz war, hatte er sich ruhig aufgerappelt und war zusammen mit den anderen Passagieren schweigend zu den Ausgängen und der frischen Luft, die dahinter auf sie wartete, gegangen.
    Er lachte und spielte im Garten Fußball mit meinem Bruder. Er hechtete nach Bällen und holte sich schmutzige Knie. Er tat alles, um uns zu zeigen, wie weit entfernt er vom Tod gewesen war. Erst als wir zu Bett gegangen waren und uns heimlich wieder auf die mittlere Treppe zurückgeschlichen hatten, hörten wir das Haus buchstäblich ächzen unter seinem Stimmungsumschwung.
    » Es kommt näher«, sagte er.
    » Rede nicht so einen Blödsinn!«, erwiderte meine Mutter.
    » Letztes Jahr und jetzt das. Es verfolgt mich.«
    Im letzten September war er ins Park Lane Hilton gefahren, um als Bürge bei

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